Die Gottesfrage

Katechesen (1981) von S.E. Dr. Günther Storck

Teil 7
 

Wenn es keinen Gott gibt, ist alles erlaubt! Das hat natürlich für die moderne Welt, auch die Welt, in der wir leben, unendliche Auswirkungen! Hier sehen wir, wenn der lebendige Gott aus dem Leben der Menschen verschwindet, dann schwindet auch die Moral! Das ist die Auswirkung! Und Sie sehen natürlich, gerade an dem Schwinden der Moral, gerade auch in der Kirche, dass die lebendige Gottesbeziehung immer mehr entgleitet, immer mehr erlischt. Und wir sehen, negativ könnte man sagen, wenn man dem Menschen wieder helfen will, wenn man ihn wieder zur Moral führen will, dann muss man ihm wieder Gott vermitteln.

Man muss ihn wieder zu Gott führen. Dann erst kann er wieder im echten Sinne leben!
... Es ist natürlich, und das werden Sie sicher auch aus eigener Erfahrung mehr oder weniger deutlich wissen, es ist viel leichter, einer Sekte anzugehören als der wahren Religion! Warum? Weil die Sekte gar nicht diesen Anspruch stellt! Nehmen Sie etwa Luther, um ein naheliegendes Beispiel aus unserer zeitlichen und räumlichen Umgebung zu wählen: Wenn man sagt: Der Mensch ist Sünder und er kommt aus der Sünde nicht heraus - es ist vielleicht Zeichen seiner Arroganz, seines Mangels an Demut, wenn er versuchen wollte, aus der Sünde herauszukommen - dann kann man eben leben, wie man lebt! Nicht wahr, man braucht sich nicht anzustrengen, die Gebote gibt es nicht, eine Erfüllung der Gebote ist nicht möglich - ich kann tun und lassen, was ich will, und ich bin doch erlöst! So lautet, zusammengefasst auf das Wesentliche, die protestantische Auffassung! Mit so einer Auffassung kann man leicht leben - und stirbt man schwer, wie man früher mit Recht unter den Katholiken gesagt hat!


Oder wenn ich erkläre: Christus ist gar nicht wahrer Gott, wie die Modernisten, die Kirche ist nur der Zusammenschluss der Jünger nach dem Tode Jesu, die eben sagen, so kann es nicht und darf es nicht zu Ende gehen mit diesem idealen Menschen Jesus von Nazareth, wir erklären, Christus lebt weiter, die Sache Jesu lebt weiter, - dann hat man eben aus der Kirche einen Verein gemacht, zu dem man gehören kann oder nicht gehören kann, dann gibt es überhaupt keine Beziehung zu Gott! Jesus Christus ist dann nicht Gott, die Kirche ist nicht göttlich, das Evangelium ist nicht göttlich, vermittelt uns keine Erlösung, ja dann handelt es sich nicht einmal mehr um Religion. Sie sehen, wie schnell hier aus der wahren, lebendigen Religion eine Weltanschauung gemacht wird, die überhaupt nichts mit Religion zu tun hat!
 

Ich verwende nur diese Beispiele - man könnte viele andere auch wählen. Sie sehen aber daran, dass es sehr einfach ist, einer Sekte anzugehören. Die Sekte ist ja dadurch charakterisiert - das heißt Sekte, Sekte heißt Ausschnitt, von secare im Lateinischen -, einen Ausschnitt zu behalten an Stelle des Ganzen, an Stelle der ganzen Wahrheit, das ist furchtbar einfach!


Es ist aber sehr anspruchsvoll, sehr schwierig, die ganze Wahrheit anzuerkennen und aus der ganzen Wahrheit zu leben! Nehmen Sie nur einmal die Frage der Gebote: Es ist sehr einfach, etwa das fünfte Gebot zu beachten: Du sollst nicht töten! Schon schwieriger in der neutestamentlichen Fassung, etwa die Nächstenliebe zu realisieren! Es ist aber sehr anspruchsvoll, denken Sie an das heutige Evangelium, alles aufzugeben, Christus nachzufolgen, die Vollkommenheit zu verwirklichen, die ja doch sehr viel mehr ist als die Erfüllung der einzelnen Gebote!


Ich habe Ihnen wiederholt auch den Blick dafür zu öffnen gesucht, dass der Pharisäer bei allem, was er tut, bei aller Anstrengung, die er unternimmt, trotz seiner Fastenpraxis, trotz seiner Almosen, im Grunde nur dem Gedanken folgt, die Sünde zu vermeiden. Der Anspruch Gottes geht aber unendlich weit darüber hinaus! Der Anspruch Gottes, wie er im Alten und wie er im Neuen Bunde geoffenbart wird, lautet: Du sollst vollkommen sein, wie euer Vater im Himmel vollkommen ist! Auch heute im Evangelium sagt der Herr sehr treffend zum reichen Jüngling: "Willst Du aber vollkommen, sein... ": Das hat er mit den Geboten noch gar nicht anvisiert, das ist mit der Erfüllung einzelner Gebote noch gar nicht angesprochen und geleistet: "Willst Du vollkommen sein, so verkaufe alles, was du hast und gib es den Armen, ... dann komm und folge mir!" (Mt.19,21).


Es geht gerade um diese Vollkommenheit! Und schauen Sie, deshalb ist es so anstrengend, deshalb ist es so schwierig, katholisch zu sein. Jetzt nicht in irgend einem willkürlichen Sinne, sondern im wahren Sinne, im absoluten Sinne! Es gibt sehr, sehr wenig Katholiken! Das werden Sie sicher auch erfahren haben. Jetzt ist aber nicht entscheidend, und ich mache hier den Anspruch Christi an die eigene Person, an mich, gerade noch einmal deutlich, es ist nicht entscheidend, wie die anderen sich verhalten. Das mag schmerzlich für mich sein, ganz gewiss, sogar sehr schmerzlich, etwa heute, wenn wir sehen, wir haben so wenig Hilfen von Gläubigen, von Priestern, von der Kirche... Das ist sehr schmerzlich! Aber nicht das ist entscheidend, entscheidend ist, was ich tue, wie ich vor Christus stehe, ob ich denn den Glauben ernst nehme, ob ich denn die Liebe ernst nehme. Man muss ständig der Gefahr, auf andere zu schauen, an andere Ansprüche zu stellen, die man für sich eben nicht stellt, zu entgehen suchen. Sonst verfällt man eben dem pharisäischen Fehler. Der Pharisäer schaut ja auf den Zöllner: "Ich danke Dir, dass ich nicht so bin wie der da... " (vgl. Lk. 18,11) ... aber ich, ich bin eben vollkommen!


Das muss man gerade vermeiden! Und denken Sie auch daran, das ist ja sehr wichtig: Der Herr wird mich fragen, was ich aus meinem Glauben gemacht habe, wenn ich vor Ihn treten muss. ER wird mich fragen, was ich mit dem Talent, dem allerwesentlichsten Talent, das es gibt, nämlich diesem Schatz, der im Acker verborgen liegt, das ist der Glaube, das ist die Liebe im Glauben, Gott, der sich mir mitteilt, der sich mir offenbaren will, was ich mit diesem Schatz gemacht habe. Das ist die Frage, die Gott an mich stellt.
 

Und ich will Ihnen auch den Hinweis geben, der fundamental wichtig ist für den Einzelnen. Erst dadurch werden wir wahrhaft frei, nämlich für Gott, für die Liebe Gottes, dass ich erkenne, es geht um diese Erfüllung des Willens Gottes.
 

Wenn man das nicht sehen wollte, wenn man das nicht erfassen wollte, dann kann man im Grunde nicht wahrhaft frei werden. Denn jeder Mensch wird in Umständen und in einer Situation geboren, die ihm vieles vorenthält. Sagen wir mal, ich wachse auf ohne Familie, wie schlimm ist das! Wie bin ich ein Leben lang dadurch betroffen und geprägt. Oder ich wachse auf ohne Mutter. Was bedeutet das, wie schlimm ist das, wie folgenreich!
Jetzt kommt aber etwas ganz Wichtiges: Dadurch, dass Gott sich mir offenbart, dadurch, dass Gott mir Seine Liebe schenkt und dass Er mich verpflichtet, diese Liebe auch zu erwidern mit der gleichen Form der Liebe, dadurch werde ich frei, dadurch wachse ich und reife ich und komme, wenn ich mich wirklich bemühe, Gott über alles zu lieben, zu einer Lebensweise, die mir hilft, diese Einschränkung, unter der ich das Leben empfangen habe, gerade zu überwinden. Das ist ganz wichtig, fundamental wichtig, dass wir sehen, menschlich mögen wir noch so arm sein, menschlich mag uns noch so Vieles vorenthalten sein, das ist kein Hindernis, zu Gott zu kommen und das ist vor allem auch kein Hindernis, die Liebe, die Gott erwartet und die Er mir sogar geschenkt hat durch Seinen Heiligen Geist, mit meinem ganzen Herzen zu erwidern und zu beantworten. Und erst dadurch gewinne ich die Reife, die Vollkommenheit meiner Seele, die mich in den Stand setzt, in die Verfassung bringt, dass ich diese Einschränkungen, das Kreuz, mit dem ich behaftet bin - von meiner Geburt, von meiner Kindheit und Jugend vielleicht -, dieses Kreuz gerade im echten, im positiven Sinn bewältige!
 

Sie sehen hier vielleicht die riesige Bedeutung der Gottesfrage für den Menschen! Sonst leidet der Mensch ein Leben lang - nicht nur: er leidet, das muss wahrscheinlich jeder - sondern er kann auch nicht das "Ja!" sagen zu seinem Leben! Das "Ja" kann ich nur sprechen, wenn ich Gott begegne, wenn ich die Fülle Seiner Liebe sehe und wenn ich die Fülle Seiner Liebe mit der Fülle der Liebe meines Herzens auch beantworte. Dann kann ich "Ja" sagen, dann wird das Leben reich und erfüllt und dann kommt auch die Zustimmung zu Gott. Diese wichtige Frage der Annahme seiner selbst, die heute so vielen Menschen zu schaffen macht, gerade dadurch, dass sie den Glauben nicht mehr haben, die Führung zur Moral, die Charakterschulung, deren es bedarf, nicht mehr haben. Diese Selbstannahme fällt heute ja so vielen Menschen, gerade Jugendlichen so furchtbar schwer, deshalb auch die steigende Selbstmordziffer, die große Ziffer im Konsum von Rauschgiften und so weiter. Das nur am Rande.


Vielleicht darf ich Sie also nochmals darauf hinweisen, dass wir berufen sind als Christen, das Christentum in seiner Fülle sichtbar und offenbar zu machen, nicht irgend eine Form von eingeschränkter Wahrheit nur, die wir für unser Leben gelten machen, sondern die ganze Wahrheit an uns, für uns, anzuerkennen und aus der ganzen Wahrheit zu leben. Und dann sind wir wahrhaft Christen und dann sind wir auch wahrhaft Katholiken!
Dieses Beispiel der Liebe braucht die Kirche, um zu wachsen und zu leben, und dadurch gerade auch die Erfahrung mit Gott machen zu können! Amen.

(Fortsetzung folgt)

 

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