Frage: Wie verhalte ich mich zu meinem Gegner?


Wir leben in einer Welt, in der wir nicht von lauter Gleichgesinnten umgeben sind. Heute werden wir, dem Glauben unserer Väter treugebliebene katholische Christen, mit unserer religiösen Einstellung noch mehr als zu irgendeiner Zeit in der jüngeren Kirchengeschichte in eine Art geistiger Isolation gedrängt. In der modernen sogenannten multikulturellen Gesellschaft ist eine echte religiöse Einheit wesentlich schwieriger zu erzielen als zu Zeiten, in denen breite Schichten des Volkes durch denselben Glauben und dieselben moralischen Vorstellungen vereint waren. 

Der Widerspruch, den man von vielen Seiten her erfährt, nötigt uns, in irgendeiner Weise dazu Stellung zu nehmen. In diesem Zusammenhang stellt sich notgedrungen unter anderem auch die Frage: Wie verhalte ich mich zu meinem Gegner? Widerspruch zu erfahren ist wohl für jeden Menschen ziemlich unangenehm, besonders dann, wenn man die besten Absichten besitzt und die edelsten Ziele verfolgt. Wie reagiere ich auf die Kritik und den Einspruch, die gegen mich vorgebracht werden?

Das Verhalten eines Jüngers Jesu Christi muß auch in dieser Situation vom christlichen Prinzip der Gerechtigkeit geleitet werden. Ich muß - wenn ich als Christ sittlich handeln will - auch meinem Gegner gegenüber gerecht sein. Im Wort “Gerechtigkeit” befindet sich das Wort “Recht”, das nach christlicher Auffassung wesentlich mit der Wahrheit zu tun hat! Deshalb muß ich auch meinem Gegner jenes Recht zugestehen, welches ihm (grundsätzlich) gebührt, auch wenn es mir persönlich unter Umständen noch so schwer fallen sollte, mich zu “überwinden” und zum streng sittlichen Verhalten durchzuringen! Wollte ich nicht Gerechtigkeit üben, dann könnte ich auch nicht mehr sittlich handeln! Aus diesem Prinzip der Gerechtigkeit ergeben sich einige praktische Grundsätze, die wir unbedingt beachten und sie einzuhalten uns bemühen sollten. 

Der allererste Grundsatz dabei ist, daß ich mir bewußt die Mühe auferlege, dem anderen Menschen genau zuzuhören! Mein lebhaftes Interesse sollte darauf ausgerichtet sein, meinen Gegner richtig zu verstehen, zu verstehen, was er eigentlich sagen möchte. Erst wenn ich ihn richtig verstanden habe, kann ich mich mit ihm überhaupt über seine Schwierigkeiten und Probleme unterhalten. Sonst reden wir beide aneinander vorbei und keine manchmal sogar lebenswichtige Frage kann gelöst werden! Wenn ich nicht die Fragen meines Diskussionspartners, die ihn bewegen, erkannt habe, kann ich ihm grundsätzlich auch keine wirksame Hilfe leisten. Denn darum sollte es mir doch letztendlich gehen: der Sache der Wahrheit zu dienen, d. h. sowohl die Wahrheit herausstellen als auch meinen Gegner, von dem ich annehme, daß er sich auf einem Irrweg befindet, zur Wahrheit (zurück -) zu führen!

Leider entsteht im Leben durch die fehlende Bereitschaft zum aufmerksamen Hinhören unter den Menschen viel zu oft eine ganze Reihe von Mißverständnissen und Fehlauslegungen, die den gegenseitigen Graben unberechtigterweise (wir alle stehen ja vor Gott!) nur noch weiter vertiefen und die sachliche Klärung zum Wohl beider Seiten verhindern. Weil man nicht richtig zuhört, versteht man etwas Falsches - dadurch ist auch der guten Sache nicht gedient. Mit ein bißchen mehr Aufeinander-Zugehen ließen sich mancher Streit und überflüssige Feindschaft vermeiden!


Ich darf auch nicht die Äußerungen meines Gegners überinterpretieren, d. h. entweder aus seinen Argumenten etwas heraushören, was er überhaupt nicht behauptet hatte oder behaupten wollte, oder aus ihnen unberechtigte Schlußfolgerungen ziehen. Natürlich müssen - wenn es mir in erster Linie um die Wahrheit geht - dem Gegner die negativen Folgen und das Widersprüchliche seines Denkens (mit menschlichem Anstand) aufgezeigt werden (denn sonst kann er auch nicht seinen Irrweg verlassen). Aber ich darf in seine Äußerungen unter keinen Umständen etwas unberechtigt hineininterpretieren, d. h. ohne sachliche Anhaltspunkte einfach aus der Luft greifen, oder ihn mit Sachen belasten, derer er sich nicht schuldig gemacht hatte. Selbst der größte Verbrecher hat das Recht auf eine faire Behandlung und darf nicht der Verbrechen angeklagt werden, die er nicht begangen hatte. Jesus Christus hat seinen Gegnern teilweise sogar äußerst energisch deren Bosheit und grobes Fehlverhalten (zwecks Umkehr) vor Augen gehalten (vgl. Mt 23), aber Er ist nie ungerecht geworden!

Zum gerechten Verhalten gehört auch, daß ich nicht zwei verschiedene, von einander völlig getrennte Gegenstände in Verbindung bringe. Wenn ich z.B. mit meinem theologischen Gegner darüber hinaus auch noch private Differenzen habe, darf ich diese nicht in die theologische Diskussion mit einbeziehen. Ich muß beide Bereiche streng von einander trennen und darf sie nicht ungerecht vermischen. 

Leider gibt es in der Welt genug Demagogen, Menschen, die entweder aus falscher Bequemlichkeit oder wegen der Dürftigkeit ihrer eigenen Position die Ebene des sachlichen Gespräches verlassen und zur “Notbremse” der böswilligen Verdächtigungen und schmutzigen Verleumdungen greifen. Dadurch “erleichtern” sie sich ihre Aufgabe auf eine unerlaubte und unsittliche Art und Weise. Sogar wenn die Betreffenden dabei inhaltlich auch die richtige Position vertreten sollten, erweisen sie der göttlichen Wahrheit durch ihr unchristliches Verhalten keinen Dienst. Denn mit Unrecht kann dem Recht grundsätzlich kein Dienst erwiesen werden! “Denn was haben Gerechtigkeit und Gottlosigkeit miteinander zu tun? Was haben Licht und Finsternis gemein?” (2 Kor 6,14)

Aufgrund dieser negativen Erfahrung sollten wir sehr vorsichtig sein, Vorwürfe gegen unsere Gegner, bzw. gegen unsere vermeintliche Gegner, mit zu erheben, ohne sie vorher persönlich gebührend geprüft zu haben. Diese Vorsicht ist besonders dann (verstärkt) angebracht, entweder wenn man sich in der eigentlichen Streitmaterie nicht entsprechend auskennt, nicht genügend Hintergrundwissen besitzt, die Vorwürfe schwerwiegender Natur sind, oder wenn der Gegner im betreffenden Streitpunkt keine schlechte Reputation besitzt. Wir wissen, wie viele Gerüchte in der Welt verbreitet werden, passen wir deshalb auf, daß wir nicht übereilt einer schmutzigen Propaganda erliegen. 

Aus diesem Grund ist es mehr als nur angebracht, bei der eigenen Urteilsbildung auch den Gegner in der betreffenden Angelegenheit zu fragen. Sollte ich ihm um der Gerechtigkeit willen nicht auch Gelegenheit zur Antwort, zur Stellungnahme auf die gegen ihn gerichteten Vorwürfe geben? Bisweilen stellt es sich dabei heraus, daß diese Vorwürfe unbegründet sind, daß er nur ein vermeintlicher Gegner war. Die fehlende Gesprächsbereitschaft ist keinesfalls ein Zeichen guten Willens (offensichtlich hat man etwas zu verbergen) - Sie ist ein deutliches Zeichen geistiger Armut!

Wenn wir als katholische Christen das lebendige Interesse an Gott und der Wahrheit besitzen, werden wir uns als Jünger Christi schon die Mühe auferlegen, uns auf den anstrengenderen Weg der aufrichtigen Wahrheitssuche zu begeben. Einmal gefunden wird uns die Wahrheit - in dieser oder jener Hinsicht (in meiner Beziehung zu Gott oder zum Mitmenschen) - “frei machen” (vgl. Joh 8,31f.), d.h. von jeglicher Verkehrtheit befreien! 

Die christliche Gerechtigkeit ist gemäß dem Evangelium aufs Engste mit der Frage der Wahrheit und des Rechts verknüpft und ist nicht aus den Lehren des Evangeliums wegzudenken: “Selig, die hungern und dürsten nach der Gerechtigkeit! Sie werden gesättigt werden. Selig die Friedensstifter! Sie werden Kinder Gottes genannt werden. Selig, die Verfolgung leiden um der Gerechtigkeit willen! Ihrer ist das Himmelreich” (Mt 5,6.9.10)! 

 

P. Eugen Rissling

 

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