Hl. Papst Leo I., der Große (440-461)


Zweite Predigt auf Weihnachten

Geliebteste! Lasst uns frohlocken im Herrn, lasst uns im Geiste vor Freude jauchzen; denn erschienen ist der Tag, der uns eure Erlösung bringt, auf den die alten Zeiten hinwiesen, und der uns ewiges Glück beschert! Kehrt doch alljährlich das Geheimnis unseres Heiles wieder, jenes Geheimnis, das von Anfang an verheißen wurde, am Ende der festgesetzten Zeit in Erfüllung ging und endlos dauern soll. Recht und billig ist es, dass wir an diesem Tage unser Herz zum Himmel erheben und dieses göttliche Mysterium verehren, damit das, was Gott in seiner großen Gnade wirkt, in der Kirche unter großem Jubel gefeiert werde. Hat doch der allmächtige und mildreiche Gott, dessen Wesen Güte, dessen Wille Macht, dessen Werk Erbarmung ist, sobald uns die Bosheit des Teufels durch das Gift seines Neides den Tod gebracht hatte, schon in den ersten Zeiten der Welt im Voraus die Heilmittel bezeichnet, die Seine Liebe für die Erlösung der Menschen in Bereitschaft hielt. Wies Er doch die Schlange auf den künftigen Samen des Weibes hin, der durch die ihm innewohnende Kraft ihr stolzes schädliches Haupt zermalmen sollte. Damit meinte Er Christus, den im Fleische kommenden Gottmenschen, der, von einer Jungfrau geboren, den Verderber des Menschengeschlechts durch eine makellose Geburt vernichten sollte...

Als demnach, Geliebteste, die Zeit erschien, die im Voraus für die Erlösung der Menschen bestimmt war, kehrt der Sohn Gottes, Jesus Christus, auf unserer niedrigen Erde ein, indem Er von Seinem himmlischen Throne herabsteigt und, ohne die Herrlichkeit seines Vaters zu verlieren, unter neuen Verhältnissen, auf neue Art Mensch wird. Unter neuen Verhältnissen, weil Er, unsichtbar in Seinem Wesen, sichtbar in unserem wurde, weil Er, der Unfassbare, erfasst sein wollte, weil Er, der vor aller Zeit schon war, in der Zeit Seinen Anfang nahm, weil Er, der Herr des Weltalls, zur Knechtsgestalt griff, indem Er die Würde Seiner Majestät verhüllte, weil der des Leidens unfähige Gott es nicht verschmähte, ein leidensfähiger Mensch zu sein und, wenngleich unsterblich, sich vor den Gesetzen des Todes zu beugen. Auf neue Art aber kam er zur Welt, da Er von einer Jungfrau empfangen, von einer Jungfrau geboren wurde, ohne fleischliche Lust von seiten des Vaters, ohne Verlust der Reinheit von seiten der Mutter...

Erschienen ist Er, um jegliches Siechtum der Verderbnis und alle Eiterbeulen schmutzstarrender Seelen zu kurieren. Darum musste auch der unter neuen Umständen geboren werden, der dem ... Menschen das neue Gnadengeschenk unbefleckter Reinheit brachte. Musste doch die Makellosigkeit dessen, der geboren wird, die ursprüngliche Jungfräulichkeit seiner Mutter wahren, und die auf sie ausgeströmte Kraft des göttlichen Geistes das Ihm wohlgefällige Bollwerk der Keuschheit und den Wohnsitz der Züchtigkeit rein erhalten. Hatte ja dieser Geist beschlossen, das Gestürzte wieder aufzurichten und das Zerbrochene wieder ganz zu machen und der Keuschheit zum Siege über die Lockungen des Fleisches gesteigerte Kraft zu verleihen...

Ihre ungeschwächte Jungfräulichkeit wusste nichts von sinnlicher Lust, gab aber den Leib. Der Herr nahm von Seiner Mutter nur die menschliche Natur, nicht auch die Schuld. Zur Welt kam eine Knechtsgestalt doch ohne sich im Zustand der Knechtschaft zu befinden, da der neue Mensch sich so mit dem alten verband, dass er auf der einen Seite unsere wahre Art annahm, auf der andern die alte Stammessünde von sich ausschloss.

Da also der erbarmungsreiche und allmächtige Erlöser in der Weise den Beginn Seiner Menschwerdung gestaltete, dass Er die Macht der von Seiner menschlichen Natur unzertrennlichen Gottheit unter dem Schleier unserer Schwachheit verbarg, wurde der verschlagene und siegesgewisse Feind getäuscht, nach dessen Meinung der zum Heile des Menschengeschlechtes zur Welt gekommene Knabe durch Seine Geburt ihm ebenso unterworfen war wie all die übrigen Kinder. Sah er Ihn doch wimmern und weinen, in Windeln gehüllt, der Beschneidung unterworfen und die Opfergabe darbringen, die das Gesetz erheischte. Er nahm an Ihm die gewöhnliche Entwicklung des Knabenalters in seinen einzelnen Stufen wahr und zweifelte nicht, dass Er wie jeder andere zum Manne heranwachsen würde. Inzwischen fügte er ihm Kränkungen zu, häufte er die Ungerechtigkeiten und griff er zu Schmähungen, Vorwürfen, Verleumdungen und Spott. Und zuletzt überschüttete er Ihn mit der ganzen Flut seiner Wutausbrüche, und wandte er alle Arten der Versuchung an. Und da er wusste, womit er des Menschen Natur vergiftet hatte, glaubte er es nie und nimmer, dass jener keinen Anteil an der ersten Sünde habe, den er auf Grund so vieler Anzeichen als sterblichen Menschen kennenlernte. Es beharrte also der schurkische Räuber und unersättliche Gläubiger darauf, gegen Den vorzugehen, der nichts mit ihm gemein hatte. Und während er das über unser verderbtes Geschlecht einmal gesprochene allgemeine Urteil vollstrecken will, überschreitet er den Vertrag, auf den er sich stützte, da er bei jenem Bestrafung für Vergehen verlangt, bei dem er keinerlei Schuld entdeckt. Annulliert wird also die tückische Verschreibung des todbringenden Paktes-, und infolge der Ungerechtigkeit einer Überforderung geht die ganze Schuldsumme verloren. Gebunden wird der Starke mit seinen eigenen Banden, und der ganze Anschlag des boshaften Feindes fällt auf sein eigenes Haupt zurück. Und nachdem der Fürst der Welt in Fesseln geschlagen, werden ihm die „Gefäße der Gefangenschaft" entrissen. Die von der alten Befleckung gereinigte menschliche Natur gewinnt ihre frühere Würde wieder, der Tod wird durch den Tod bezwungen, die Geburt durch die Geburt erneut; denn gleichzeitig wird durch die Erlösung die Knechtschaft aufgehoben, durch die Wiedergeburt die Geburt geändert und durch den Glauben der Sünder gerechtfertigt.

Wer immer also du sein magst, der du dich frommgläubig des christlichen Namens rühmst, würdige wohl die Gnade dieser Wiederversöhnung in einem gerechten Urteile! Wurde doch dir, dem einst Verworfenen, dem aus des Paradieses Wohnsitzen Vertriebenen, dem infolge der langen Verbannung dem Tode Nahen, dem zu Staub und Asche Gewordenen, der keine Lebenshoffnung mehr hatte, durch die Menschwerdung des Wortes die Möglichkeit gegeben, aus der Ferne zu deinem Schöpfer zurückzukehren, deinen Vater zu erkennen, aus einem Sklaven zu einem Freien zu werden und aus der Stelle eines Fremdlings in die eines Sohnes vorzurücken. So wirst du, der aus vergänglichem Fleische Geborene, aus dem Geiste Gottes wiedergeboren und erhältst du durch die Gnade, was du durch deine Natur nicht hattest: So darfst du Gott deinen Vater nennen, wenn du dich selbst als Kind Gottes im Geiste der Adoption anerkennst. Von der Schuld eines bösen Gewissens befreit, richte dein Sehnen auf das Himmelreich! Unterstützt durch die Hilfe von oben, handle nach dem Willen Gottes! Nimm dir, solange du auf Erden weilst, die Engel zum Vorbild! Labe dich an der Kraft unsterblichen Wesens und kämpfe voll Zuversicht gegen die feindlichen Versuchungen zum Schutze eines gottgefälligen Lebens! Und hast du als Streiter im himmlischen Heere deinen Fahneneid gehalten, so brauchst du nicht daran zu zweifeln, dass dir für deinen Sieg im Triumphlager des ewigen Königs die Krone zufallen muss. Wird dich doch die Auferstehung, die den Frommen winkt, zur Teilnahme am Himmelreiche emporführen.

Da ihr also, Geliebteste, so reichen Lohn voll Zuversicht erwartet, so bleibet standhaft in dem Glauben, „in dem ihr festgegründet seid", damit euch nicht eben jener Versucher, dessen Herrschaft Christus bereits von euch abgewandt hat, aufs neue durch irgendwelche Ränke verführe, damit er nicht gerade die Freude des heutigen Tages durch seine trügerische Verschlagenheit zum Schlimmen wende! ... Fern bleibe der Seele des Christen gottloser Aberglaube und wahnwitziger Trug! Unermesslich groß ist der Unterschied zwischen Ewigem und Zeitlichem, zwischen Körperlosem und Körperlichem, zwischen dem Gebieter und dem, was Ihm untertan ist. Mag auch dies alles staunenerregende Schönheit besitzen, so fehlt ihm doch göttliches Wesen, dem man allein Anbetung schuldet. Verehrung gebührt also jener Macht, jener Weisheit, jener Majestät, die das ganze Weltall aus dem Nichts hervorbrachte, die in ihrer Allmacht die Erde und den Himmel schuf und diesen, ganz wie sie es wollte, Form und Ausdehnung gab. Sonne, Mond und Sterne mögen für die Menschen, die sich ihrer bedienen, von Nutzen sein, sie mögen auch jenen, die zu ihnen aufblicken, außerordentlich schön erscheinen, aber jedenfalls mit der Einschränkung, dass man ihrem Urheber dafür dankt und an Gott sich im Gebete wendet, der sie erschaffen hat, nicht an ein Geschöpf, das den ihm zugewiesenen Dienst verrichtet.

Lobpreiset also, Geliebteste, den Herrn in all seinen Werken und Entscheiden! Es wohne in euch der keinem Zweifel unterworfene Glaube, dass eine Jungfrau gebar und makellos blieb! Weihet fromme und aufrichtige Verehrung dem heiligen und göttlichen Geheimnisse der menschlichen Erlösung! Liebet voll Inbrunst Christus, der in unserem Fleische zur Welt kommt, auf dass ihr würdig werdet, Ihn auch als Gott der Glorie in der Majestät Seiner Herrschaft zu schauen, Ihn, der mit dem Vater und dem Heiligen Geiste als einiger Gott lebt in Ewigkeit! Amen.


Zurück Hoch Startseite