Wie ein kleiner Mann dem großen Gott begegnete

■ Im Evangelium nach Lukas wird an einer Stelle von einer Begebenheit aus dem Leben Jesu erzählt (Lk 19,1-10), die in aller Kürze den tiefen Sinn und den eigentlichen Zweck des Heilswirkens Christi überdeutlich veranschaulicht. Wenn man von der Geschichte des betreffenden Mannes hört, fühlt man sich persönlich stark angesprochen bzw. erkennt sich gewissermaßen selbst in dieser Person. Denn seine Lebensgeschichte könnte in nicht wenigen wesentlichen Punkten durchaus der unseren ähneln.
Es wird nämlich berichtet, dass Jesus „nach Jericho kam und durch den Ort zog“. Die Kunde von Ihm und Seinem Wirken eilte Ihm sicherlich meilenweit voraus. „Da war ein Mann mit Namen Zachäus.“ Es darf somit angenommen werden, dass auch dieser Zachäus bereits vieles über Jesus gehört hatte, wie Er nämlich verschiedene Wundertaten vollbrachte und viele erhabene und das Herz des Menschen berührende Worte sprach.
„Er war Oberzöllner und reich.“ Wie wir im folgenden noch sehen werden, war dieser Zachäus in seinem Kern wohl kein gänzlich verdorbener Mensch. Aber anscheinend schlitterte er irgendwie in einen Beruf hinein, der es wegen der sittlichen Schwäche der menschlichen Natur praktisch fast notwendig mit sich brachte, dass man sich der Lüge, des Diebstahls und anderen Betrügereien schuldig machte. Denn er und seine Berufskollegen trieben ja den Zoll ein, hatten es mit viel Geld zu tun und beschmutzten ihre Hände wohl auch mit mancherlei unsauberen finanziellen Geschäften.
So galten die Zöllner alles andere als angesehen im Volk. Ja man verachtete sie sogar regelrecht wegen der von ihnen wohl zahlreich begangenen Ungerechtigkeiten. So wurde „Zöllner“ gleichwie „Sünder“ zu einer Art Schimpfnamen für einen Personenkreis, der weit vom Wege Gottes abirrte und sich ziemlich in einen unsittlichen Lebenswandel verstrickte. Und Zachäus war dazu auch noch ein Oberzöllner! Also hat er sich mit seinen „Leistungen“ anscheinend sogar überdurchschnittlich „hervorgetan“ und „ausgezeichnet“. Wohl nicht zufällig wird deswegen im Evangelium auch erwähnt, dass er „reich“ war.
Aber er hatte einen Wunsch. „Gern hätte er Jesus von Angesicht gesehen.“ Dies ist wohl in jedem Fall als interessant einzustufen. Aber entsprach dieses Anliegen einem ehrlichen Suchen nach dem Sinn und der geistigen Erfüllung im Leben oder war er lediglich Ausdruck einer oberflächlichen Neugierde, einer billigen Sensationssucht? Wie dem auch gewesen sein mag, hat Zachäus seinen Wunsch, „Jesus von Angesicht“ zu sehen, nicht so einfach in Erfüllung gehen lassen können. „Denn er war klein von Gestalt“ - die Volksmenge versperrte ihm als einem kleinwüchsigen Menschen einfach die Sicht auf den vorbeigehenden Jesus. Wahrscheinlich ist er mit der Menschenmenge, die Jesus umringte, ein Stück lang durch den Ort Jericho mitgelaufen, aber alles erfolglos, da ja die anderen Leute immer noch einfach größer (und wohl auch stärker) waren als er selbst.
Aber statt die Segel sozusagen streichen zu lassen und sein Vorhaben resigniert aufzugeben, ließ er sich durch seinen bisherigen Misserfolg nicht entmutigen. Und so fiel ihm ein Weg ein, wie er doch zu seinem Ziel kommen könnte. Dies lässt uns berechtigterweise entsprechende Rückschlüsse darauf schließen, dass Zachäus wohl doch von einer ehrlichen Absicht beseelt gewesen sein muss, „Jesus von Angesicht“ zu sehen.
„So lief er voraus und stieg auf einen Maulbeerfeigenbaum, um Ihn sehen zu können; denn dort musste Er vorbeikommen.“ Zachäus hat sich zu einem Oberzöllner hochgedient. Dies lässt vermuten, dass er zum gegebenen Zeitpunkt seines Lebens nicht mehr der jüngste war. Nicht auszuschließen, dass er mit den Jahren auch nicht mehr unbedingt sehr schlank gewesen ist.
Und nun klettert dieser Mann - als ob er ein kleiner Bub wäre - auf einen Baum hinauf, der etwas weiter am Wegrand stand, wo Jesus nach Zachäus` Berechnung vorbeigehen musste. Wie seltsam und belustigend muss dies auf die Menschen gewirkt haben, die dies gesehen haben, vor allem wegen des, wie zu vermuten ist, ziemlich unbeholfenen Kletterns des nicht mehr jungen und wohl mit einem gewissen Leibesumfang „gesegneten“ Zachäus! Aber er hat sich in seinem Vorhaben, und das spricht für ihn, nicht vom Gelächter der Menschen abbringen lassen und hat diese Aktion, das Ziel vor Augen, trotzdem durchgeführt.
Und nun geschieht etwas, womit Zachäus wohl auch in seinen kühnsten Träumen nicht gerechnet hatte. „Als Jesus an die Stelle kam, schaute Er hinauf und sagte zu ihm: ´Zachäus, steig schnell herab; denn heute muss Ich in deinem Hause bleiben´“. Zachäus wollte Jesus nur sehen, das hätte ihm vollends genügt. Jesus aber übertrifft insofern seine Erwartungen, dass Er beim betreffenden Baum zunächst wohl stehen bleibt, dann zu ihm hinaufschaut und sich sogar persönlich an ihn wendet. Ihn, den Oberzöllner, der da seltsam auf dem Baume hockt, beachtet Er wider Erwarten und spricht ihn auch noch an!
Und zwar richtet Er an ihn nicht bloß eine allgemein gehaltene Freundlichkeitsfloskel, sondern teilt ihm direkt mit, dass Er „heute“ in seinem Haus einkehren müsse. Jesus fragt bezeichnenderweise nicht etwa, ob Er von Zachäus eingeladen werde, ob Er zu ihm kommen dürfe, sondern bezeichnet es als eine Art innere Notwendigkeit, dass Er in seinem Haus „bleiben muss“. Und dieses „in-deinem-Haus-bleiben“ symbolisiert nach dem Sprachgebrauch des Evangeliums die innige Gemeinschaft Gottes mit dem betreffenden Menschen und weist gewissermaßen auf das himmlische Hochzeitsmahl mit den Erwählten hin (vgl. Joh 1,35-39).
Welch ein Wunder der Barmherzigkeit Gottes! Ausgerechnet Zachäus, der doch sogar ein Oberzöllner ist und so manches Unrecht auf seinem Konto hat, wird das große Privileg der besonderen Freundschaft Christi zuteil, Ihn beherbergen und mit Ihm eine besondere Gemeinschaft haben zu dürfen! Aber anscheinend hat Jesus die besondere, zusätzliche Mühe und Anstrengung dieses Zachäus berücksichtigt, die dieser auf sich nahm, um Ihn unbedingt sehen zu können. Offensichtlich hat Zachäus bei dieser ganzen Aktion von Anfang an ein ehrliches Streben an einer Begegnung mit Jesus besessen ...und wurde dafür nicht nur überdurchschnittlich, sondern sogar sozusagen fürstlich belohnt. „Er stieg schnell herab und nahm Ihn mit Freuden auf.“
■ Die Ähnlichkeit bzw. Analogie des Zachäus mit uns besteht darin, dass auch von uns jemand bisweilen in so manches Elend hineinschlittert, obwohl wir doch meinen, nicht böse und verdorben zu sein, und einen gewissen gesunden Kern bewahren. Zunächst macht man aus Schwäche oder Unachtsamkeit einen kleinen Fehler, geht einen scheinbar unbedeutenden Kompromiss mit Unrecht und Sünde ein. Man meint, alles noch kontrollieren zu können, aber die Sünde fordert von uns insofern ihren Tribut, dass unsere Hemmschwelle sinkt und wir uns durch das Gesetz der Sünde sozusagen genötigt sehen, noch mehr Kompromisse mit ihr zu schließen - wir werden wie durch einen starken Sog weiter hineingezogen. Und kaum hat man sich umgeschaut, steckt man vielleicht sogar schon richtig im Schlamassel.
Wie soll man dann aus einer solchen kleinen oder großen Verzwickung in die Sünde heraus? Zachäus wollte „Jesus von Angesicht“ sehen ... und hat alles dafür getan, um diesem Ziel näher zu kommen! Er hat die Hände nicht etwa depressiv in den Schoß gelegt und sich mit seinem traurigen Schicksal demoralisiert abgefunden. Nein, im Gegenteil, er versuchte, die ihm in den Weg gelegten Hindernisse mit Cleverness zu überwinden und fand dann schließlich einen ziemlich ungewöhnlichen Weg, Jesus tatsächlich zu Gesicht zu bekommen. Und siehe da, Jesus wusste dies zu schätzen und übertraf bei weitem Zachäus` eigene Erwartungen, indem Er sich nicht nur anschauen ließ, sondern sogar in sein Haus einkehrte!
Wenn also auch wir feststellen sollten, dass wir bisweilen ebenfalls (Schritt für Schritt?) in irgendeine Sünde oder ungeordnete Leidenschaft hineingeschlittert sind, uns darin verfangen haben und uns nicht mehr aus eigener Kraft daraus befreien können, dann streben wir wie Zachäus mit allen uns zur Verfügung stehenden Kräften unbedingt nach einer persönlichen Begegnung mit Ihm. Und lassen wir in uns bitte diese innere Sehnsucht, Jesus eines guten Tages tatsächlich ganz nahe zu „Angesicht“ zu bekommen, niemals ersticken oder ertöten! Denn nur so retten wir in uns den gesunden (Rest)Kern und erhalten somit eine Chance zur Umkehr und zum Neuanfang nach Gottes Willen und Gebot.
Mag uns auch diese Mühe, „Jesus von Angesicht“ zu erblicken, nicht leicht fallen, und sollten sich vor uns in dieser Hinsicht so manche Hindernisse auftürmen, suchen wir bei Bedarf halt nach etwas unüblicheren Wegen zum Ziel und klettern wir dabei - bildlich gesprochen - notfalls ebenfalls auf den Baum hinauf, auch wenn dies ein Kopfschütteln und Missfallen unserer noch so gutbürgerlichen Umgebung hervorrufen sollte. Denn darauf kommt es letztendlich nicht an, sondern dass uns Jesus wie jenen Zachäus anschaut, dass uns Seine Vergebung geschenkt wird und Er sogar dauerhaft im „Haus“ unserer Seele bleibt!
■ Zachäus „nahm Ihn mit Freuden auf“. Aber es konnte nicht ausbleiben, dass sich in solchen Fällen der allzu menschliche Neid der anderen regt: „Alle, die das sahen, murrten und sagten: ´Bei einem Sünder ist Er eingekehrt, um zu rasten´“. „Zachäus aber“ ließ sich durch dieses dumme Geschwätz der Leute in seinem guten Vorhaben weder entmutigen noch beirren, sondern er „trat herzu und sagte zum Herrn: ´Siehe, Herr, die Hälfte meines Vermögens gebe ich den Armen; und wenn ich jemand betrogen habe, so erstatte ich es vierfach´“.
Er war also von so einem aufrichtigen Umkehrwillen beseelt, dass er auch wie selbstverständlich bereit war, den durch seine Vergehen angerichteten großen Schaden in aller Konsequenz wiedergutzumachen! Zwar hatte er zuvor wohl ein beträchtliches Vermögen angehäuft. Aber zieht man zunächst „die Hälfte meines Vermögens“ (für die „Armen“) ab und berücksichtigt dann auch noch die vierfache Erstattung aller durch Betrug erworbenen Summen, bleibt unterm Strich vergleichsweise nicht mehr sehr viel übrig. Für einen Mann, der den Umgang mit großem Geld gewohnt war und wohl auch ziemlich an diesem hing, war dies ein gewaltiges Opfer! Aber für Zachäus stand es offensichtlich außer jeder Frage - und das spricht enorm für ihn -, dass er zu so einer einschneidenden Restitution verpflichtet sei, wenn er wirklich ein neues Leben mit Gott beginnen wolle - eine „mildere“ Behandlung seiner selbst kam ihm wohl nicht einmal in den Sinn!
So soll uns auf diesem Wege noch einmal deutlich zu Bewusstsein geführt werden, dass die ehrliche Absicht, Wiedergutmachung aller durch unsere Sünden etwa angerichteten (finanziellen, sachlichen wie moralischen) Schäden am Nächsten und die konsequente Durchführung dieser Restitution ein wesentlicher Bestandteil der christlichen Buße generell und des Sakramentes der hl. Beichte speziell ist! Wer dazu nicht bereit sein sollte, besitzt keine aufrichtige Reue über sein Fehlverhalten und kann dementsprechend auch keine Vergebung erlangen. Und nach ausdrücklicher katholischer Morallehre muss bei öffentlichen Vergehen auch entsprechend öffentliche Wiedergutmachung geleistet werden, bevor der betreffende Sünder überhaupt die Absolution in der Beichte erlangen und wieder zur hl. Kommunion zugelassen werden darf! Denn mit Gott kann man keine Spielchen veranstalten - entweder man hat ehrliche Absichten oder eben nicht.
Zachäus hatte einen solchen ehrlichen und konsequenten Umkehrwillen. Daher sagte auch Jesus darauf „zu ihm: ´Heute ist diesem Haus Heil widerfahren, weil auch er ein Sohn Abrahams ist. Der Menschensohn ist ja gekommen, zu suchen und zu retten, was verloren war´“. Kein Sünder muss also verzweifeln, kein Mensch die Hoffnung auf Gott verlieren. Es gibt immer einen Weg zurück zu Gott: „Ob eure Sünden rot sind wie Scharlach, weiß sollen sie werden wie Schnee. Ob sie auch rot sind wie Purpur, weiß sollen sie werden wie Wolle“ (Is 1,18)! Am Beispiel des Zachäus, des Oberzöllners und Sünders, wird uns veranschaulicht, dass „wer sucht, der findet; wer anklopft, dem wird aufgetan“ (Mt 7,8). So hat dieser kleinwüchsige Mann, der wohl am meisten sein ehrliches Interesse an einer Begegnung mit Jesus unter Beweis gestellt hat, den großen, heiligen und unsterblichen Gott gefunden und beherbergen dürfen!

P. Eugen Rissling

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