Das Lebensziel des Menschen


Seit Alters her beschäftigt sich der Menschen mit der wichtigen Frage, wozu er überhaupt hier auf Erden ist, was das Ziel, der letzte Zweck seines Daseins ist. Ohne diesen Zweck kann ja sein Leben keinen Sinn haben. Der Mensch braucht Orientierung, um seine Handlungen sinnvoll und zweckmäßig zu gestalten. Denn ohne ein ganz bestimmtes Ziel im Auge zu haben, kann nichts Brauchbares und Vernünftiges geschaffen werden. 

Man kann auch fragen: wozu hat Gott die Welt erschaffen? Welchen Zweck hat Er dabei verfolgt? Denn es wird wohl niemand annehmen wollen, Gott habe das Schöpfungswerk aus lauter Langeweile vollbracht, Er habe das gesamte Weltall bloß zufällig und ohne eine bestimmte Absicht erschaffen. Bei einem gläubigen Menschen sträubt sich alles gegen diese Annahme. 

Überfliegen wir die gängigen Antworten, die z.B. in der religiösen Literatur auf diese Fragen gegeben werden, wird sich wohl die Antwort herauskristallisieren: der Mensch sei dazu da auf Erden, um fromm zu leben, selig zu sterben und in den Himmel zu kommen. Diese Antwort ist nicht falsch, aber dennoch ist sie nicht ganz befriedigend. Denn sie klingt so, als ginge es dem Menschen letztendlich nur um seine Glückseligkeit, das fromme Leben und der selige Tod würden nur erstrebt, um in den Himmel zu kommen. Sie sind irgendwie nur ein Mittel zum Zweck. Was der Mensch eigentlich wolle, ist sein Wohlergehen im Jenseits. Eine gewisse Portion Egoismus bleibt somit dieser Einstellung anhaften. 

Deutlicher tritt der Mangel dieser Einstellung zutage, wenn wir darauf aufmerksam werden, daß hier Gott ja nicht vorkommt, daß Er nicht unbedingt als das Ziel des menschlichen Lebens in Erscheinung tritt! Man gebraucht Ihn als ein zwar erhabenes, aber dennoch (nur) als ein Mittel zum Zweck des eigenen Glücks. Dieses Denken bleibt egozentrisch, es bricht nicht - wenigstens nicht entschieden genug - aus dem Kreis der eigennützigen Gedankenwelt heraus.  Was soll aber der Mensch hier auf Erden suchen? Wenn wir darauf eine Antwort geben wollen, sollten wir uns auf die Kernaussage der göttlichen Offenbarung besinnen. Der hl. Apostel Johannes, der Lieblingsjünger Christi, der im Abendmahlssaal “an der Brust Jesu lag” (Joh 13,23), wird nicht müde, seinen Zuhörern einzuschärfen, daß “Gott die Liebe ist” (1 Joh 4,16.8). Dieser Gedanke durchzieht wie ein roter Faden den ganzen Brief, den Johannes als Begleitschreiben zu seinem Evangelium geschrieben hat. Die ganze christliche Offenbarung bezeugt, daß das Wesen Gottes am besten mit der Liebe umschrieben werden kann. Nun ist es aber eine Eigenschaft der Liebe, der wahren Liebe, möglichst alle zu umfassen. Es ist ihr nicht gleichgültig, ob jemand Anteil an ihr hat oder nicht. Sie will der Absicht nach unbedingt alle mit sich selbst erfüllen und beglücken. Wollte sie dabei bewußt eine Ausnahme machen, wäre sie nicht die wahre Liebe. Wenn wir jemand wirklich lieben und unser Herz mit lauter Freude erfüllt ist, möchten wir da nicht unsere ganze Umgebung damit “anstecken”? 

Und wenn dies schon von uns, Menschen, gilt, die wir doch alle unvollkommen und sündhaft sind, die wir doch täglich unsere sittliche Gebrechlichkeit schmerzhaft erfahren müssen, um wieviel mehr muß das dann von Gott gesagt werden, auf Dem nicht einmal der geringste Schatten der (geistigen) Unvollkommenheit liegt? Und wenn der Herrgott heilig, ja die Heiligkeit und Güte schlechthin ist, um wieviel mehr muß Er dann das aufrichtige Interesse haben, die geschaffene Kreatur mit Seiner göttlichen Liebe zu umfassen? 

Wenn wir von der Liebe als dem Wesen Gottes ausgehen, wird auch die ganze Heilsgeschichte besser zu verstehen sein. Weil sich eben Gott in Seiner Liebe mitteilen wollte, hat Er das Weltall und den Menschen als dessen Krönung erschaffen. Der Mensch sollte in die Liebe einbezogen werden und in ihr seine Erfüllung finden - das ist das eigentliche Ziel, das Gott mit der Schöpfung verfolgt hat! Und obwohl sich der Mensch durch den Sündenfall freiwillig von Gott lossagte, hat Er sich von ihm trotzdem nicht abgewandt, sondern gab ihm die Möglichkeit, zum himmlischen Vaterhaus zurückzukehren. Deshalb ist Gott Mensch geworden “und hat unter uns gewohnt” (Joh 1,14). Deshalb hat dieser menschgewordene Gott das Leid der ganzen Welt auf Sich genommen und das Kreuz stellvertretend für die sündige Menschheit auf Seinen Schultern getragen. Deshalb hat Jesus Christus die bittere Gottverlassenheit am Kreuz durchleiden und sterben sollen bzw. wollen, um wieder Frieden zwischen Himmel und Erde stiften zu können. Hinter jeder Seiner Handlung stand die ewige Liebe Gottes zum Menschen! 

“Gottes Liebe hat sich an uns darin geoffenbart, daß Gott Seinen Eingeborenen Sohn in die Welt gesandt hat, damit wir durch Ihn das Leben haben” (1 Joh 3,9); “Denn so sehr hat Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen Eingeborenen Sohn dahingab, damit jeder, der an Ihn glaubt, nicht verlorengehe, sondern ewiges Leben habe” (Joh 3,16). 

Nicht anders ist zu erklären, warum Gott Seinen Heiligen Geist, der doch das ewige innergöttliche Liebesband zwischen dem Vater und dem Sohn ist, auf Seine junge Kirche herabkommen ließ. Er wollte eben den Zweck der Schöpfung erfüllt sehen, indem Er Seinen Jüngern nicht etwas, sondern Sich selbst mitteilte. Pfingsten bedeutet daher nichts anderes als Anteilnahme am Leben und an der Liebe des dreieinigen Gottes, zwar nicht endgültig, aber dennoch in dem Maße voll und ganz, wie es für Menschen auf Erden möglich ist! 

Was anderes als Seine Liebe war der Beweggrund dafür, daß Christus die heiligen Sakramente, allem voran die Buße und die Eucharistie, einsetzte? Der gestrauchelte Mensch sollte die Gelegenheit besitzen, umzukehren und den lebenspendenden Bundesschluß mit Gott zu schließen und ständig zu erneuern! Der Mensch sollte mit der wirklichen Gegenwart des menschgewordenen Gottes beglückt werden, mit Seinem Leib und Seiner Seele, mit Seiner Menschheit und Gottheit. Nur mit der Liebe Gottes zum armseligen Menschengeschlecht sind alle Heilstaten Jesu Christi zu erklären! 

Nachdem wir die Frage erörterten, wozu Gott die Welt und den Menschen erschaffen hat, wollen wir uns Gedanken darüber machen, welches Ziel der Mensch in seinem Leben verfolgen soll. Zunächst müssen wir uns klar darüber werden, daß egoistisch gefärbte Absichten ausscheiden, wie auch immer sie lauten mögen. Diesseits orientierte Interessen - Wohlstand, Wohlergehen o. ä. - können nicht das letzte Lebensziel eines gläubigen Menschen sein. Auch die Absicht, in den Himmel kommen zu wollen, kann nicht den Lebensinhalt eines Christen ausmachen, weil sein Denken ja ebenfalls egozentrisch bliebe. Wohl muß sich das Interesse des Menschen irgendwie auf Gott beziehen. Aber nicht nur allgemein muß sich unser Leben auf Gott beziehen, besonders angesichts Seiner alles überwältigenden Liebe zu uns, Menschen, muß es uns darum gehen, diese Liebe zu erwidern! Wenn Gott uns schon so sehr geliebt hat, daß Er Sein eigenes Leben nicht schonte, darf es uns nicht gleichgültig bleiben, ob Gottes Liebe von uns beantwortet wird oder nicht. Für unseren Teil müßten wir alles daran setzen, die Liebe Gottes aufzunehmen und nach dem Maße unserer Möglichkeit zu erwidern. Nicht zufällig verlangt Gott im Ersten Gebot, man soll Ihn lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen seinen Kräften! 

Somit besteht das Lebensziel des Menschen darin, Liebe, sittliche Liebe zu besitzen, sie in uns ständig zu vertiefen und nach außen hin auszustrahlen. Nur sie kann dem Leben einen Sinn geben! Unser Verlangen muß sich danach richten, die Güte Gottes anzueignen und sie im Alltag zu leben. Dadurch werden wir dem Willen nach Gott gleichförmig und nehmen in uns Seinen göttlichen Geist auf. Nebenbei finden wir dann darin auch unsere Erfüllung. Oder man kann es auch anders formulieren. Uns soll es darum gehen, letztendlich um Gottes (und nicht um der eigenen Glückseligkeit) willen hier auf Erden heilig zu werden: “Denn das ist der Wille Gottes, daß ihr heilig seid” (1 Thess 4,3). Befreit von der Last der Sünde kann der Mensch dann umso intensiver und ungehinderter Gott lieben und verehren! 

Ein Mensch, der nach dieser Heiligung des Lebens strebt, weiß, daß Gott Seine treuen Diener nach ihrem Tod zu Sich in den Himmel holen wird. Wenn er das Verlangen nach dem Himmel entwickelt, dann ist er nicht von eigensüchtigen Glückseligkeitsgedanken erfüllt, nein, er möchte heimkehren, um den Herrgott im Himmel ohne Störung und Behinderung in aller Ewigkeit zu lieben und zu loben! 
Diese christliche Sicht bedeutet eine radikale Befreiung des Menschen von der Ichsucht, von der Anhänglichkeit an und von der Abhängigkeit von vergänglichen Werten. Sie läßt ihn im Lichte Gottes die wahre Hierarchie der Werte erkennen und befolgen. In diesem sittlich-gereinigten Zustand findet der Mensch zu sich selbst, weil er zuvor zu Gott gefunden hat. Das ist die gesunde christliche Emanzipation, die übrigens auch einer verkrampften Religiosität vorbeugt. 

Dann mögen die Wogen des Widerspruchs und der Anfeindung noch so hoch sein, der Christ läßt sich nicht (moralisch) aus der Bahn bringen, weil er nicht Sand, sondern festen Boden unter den Füßen hat. Er “gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf Felsen baute” (Mt 7,24). Denn “weder Tod noch Leben, weder Engel noch Herrschaften, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Mächte, weder Hohes noch Niederes noch sonst etwas Erschaffenes vermag uns von der Liebe Gottes zu scheiden, die da ist in Christus Jesus, unserem Herrn” (Röm 8,38f.)! 

P. Eugen Rissling

 

 

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