Das Reich Gottes

In der Predigt Jesu nimmt das Gottes- oder Himmelreich einen wichtigen Platz ein. Bisweilen begegnet uns der Hinweis auf das Reich Gottes im Neuen Testament auch an scheinbar unbedeutender Stelle. So wird auch einmal Joseph von Arimathäa erwähnt, „ein angesehener Ratsherr" (Mk. 15,43), der nach der Kreuzigung um den Leichnam Jesu bat, um ihn zu bestatten und der beim Evangelisten Markus mit dem Hinweis charakterisiert wird, dass er „ebenfalls das Reich Gottes erwartete" (Mk. 15, 43).

Es wird nicht ausgeführt, wie lange oder wie gut er Jesus Christus selbst gekannt hat. Matthäus und Johannes nennen ihn nur kurz einen „Jünger Jesu" (vgl. Mt. 27,58; Joh. 19,38). Lukas sagt, dass er ein „edler und rechtschaffener Mann" (Lk. 23,50) gewesen sei.

Markus begnügt sich mit dem Hinweis auf die Erwartung des Reiches Gottes, bezeichnet damit aber schon das Wichtigste, was über das Herz und die Einstellung dieses Mannes aus Arimathäa gesagt werden kann. Denn die Erwartung des Reiches Gottes ist Anfang und Ausdruck der übernatürlichen Tugenden von Glauben, Hoffnung und Liebe. Wenn jemand ehrlich das Reich Gottes erwartet, dann sind sein Blick und sein Interesse über diese vergängliche Welt hinaus auf das Unvergängliche, auf die Wahrheit, auf das Wertvolle, auf Gott hin, gerichtet. Wo ein Herz sich so für Gott und Sein Reich ehrlich öffnet, da kann die Gnade wirken. In dieser Erwartung des Reiches Gottes liegt somit schon der Keim für alle anderen Tugenden verborgen. Und weil sein Herz an Gott und an der Erwartung Seines Reiches hing, „hatte er ihrem Beschluss (der Tötung Jesu) und ihrem Vorgehen nicht zugestimmt" (Lk. 23,51), ja er konnte es gar nicht, weil er aus diesem Blickwinkel das Unrecht gar nicht verkennen konnte, das im Licht der Liebe Gottes nur verabscheuungswürdig sein kann.

Schon im ganzen Alten Testament zeigt sich die Erwartung eines Gottesreiches, wenn auch oft noch unsicher und verborgen. Jesus Christus aber hat uns erst den wahren Anteil daran gebracht. Denn nicht ein irdisches Reich kann uns mit Gott vollkommen verbinden oder die Sehnsucht unserer Herzen, welche durch die Sünde verwundet sind, stillen. Gott selbst musste kommen, uns zu erlösen, und uns wieder in das Reich Seiner Herrlichkeit aufnehmen.

Darum ruft uns Jesus im Evangelium gleich am Beginn Seiner Predigttätigkeit so eindringlich zu: „Das Reich Gottes ist nahe. Bekehrt euch und glaubt an die Frohbotschaft" (Mk. 1,15)!

In Jesus Christus ist das Reich Gottes unter uns erschienen. Er hat uns Seine überreiche Gnade und die Möglichkeit wahrer Gotteskindschaft gebracht, wenn wir nur Sein Heil im Glauben annehmen, das Er uns durch Seine Sakramente und Seine von Ihm gestiftete Kirche schenkt, und wenn wir von unseren bösen Werken umkehren!

Die Kirche ist seither das sichtbare Werkzeug und die ursprunghafte Erscheinung des Gottesreiches hier auf Erden, weil in ihr und durch sie die Gnade Gottes wirksam ist. Aber sie ist noch nicht die Vollgestalt des Gottesreiches, so lange sie noch aus fehlbaren Menschen besteht, die alle noch um die Vollendung ringen und gegen ihre Schwächen ankämpfen müssen.

Wir sind zwar durch die Taufe neugeborene Gotteskinder geworden, aber wir „tragen diesen Schatz freilich (noch) in irdenen Gefäßen" (2 Kor. 4,7). Aber gerade dadurch, dass die Gnade schwachen, anfälligen Menschen anvertraut wurde, kommt die geheimnisvolle Kraft des Reiches Gottes zur Geltung, wie der heilige Paulus schreibt: „So soll die überreiche Fülle der Kraft nicht uns, sondern Gott zugeschrieben werden. Allenthalben sind wir bedrängt, doch nicht erdrückt, im Zweifel, aber nicht in Verzweiflung, verfolgt, aber nicht im Stich gelassen, niedergeworfen, aber nicht vernichtet. Allzeit tragen wir Jesu Sterben am Leib herum, auf dass auch Jesu Leben an unserm Leibe sich offenbare" (2 Kor. 4,7ff.).

Wo das Reich Gottes in dieser Haltung der Liebe und der Kreuzesnachfolge Christi gesucht und erstrebt wird, verfallen die Menschen nicht den Irrlehrern oder falschen Propheten, die zu allen Zeiten die Menschen verführt haben, wie wir es bei so vielen Sekten, aber auch politischen Ideologien erleben, die zwar vom Reich oder auch von Gott sprechen, aber in Wirklichkeit nicht Gott, sondern eine irdische Idee, eine Ideologie oder einen bloßen Personenkult zum Mittelpunkt ihres Denkens, Hoffens und Wirkens machen und gemacht haben.

Im „Vater Unser" hat Jesus uns gelehrt, täglich um das Kommen des Reiches Gottes zu beten. Auch darin unterscheidet sich Gottes Reich von einem bloßen Reich der Humanität, wie es sich heute viele erträumen. Wir brauchen die Hilfe Gottes. Ohne Gott gelingt auch die Nächstenliebe nicht. Es sind nicht wir, die das Reich Gottes schaffen, sondern es ist die Gnade des Heiligen Geistes, der Anteil an Seinem Reiche schenkt.

Und obwohl Er selbst der Schöpfer der Welt ist, sagt Er doch: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt" ( Joh. 18,36). Er befreit damit die Erwartung eines Gottesreiches von jeder Art politischer oder sektiererischer Verquickung.

Deswegen lenkt Jesus unsere Erwartung nicht auf irdische Macht und Größe, sondern auf unser eigenes Herz, wenn wir das Kommen des Reiches Gottes sehen und erleben wollen. Gottes Gnade und Sein Reich können nur zu uns kommen, wenn wir unser Herz für die Liebe Gottes öffnen, die uns in Jesus Christus erschienen ist:

„Das Reich Gottes kommt nicht in sichtbarer Weise. Man kann nicht sagen: Hier ist es oder dort. Denn seht, das Reich Gottes ist in euch" (Lk. 17,20f.).

Wir können auch hier wieder mit dem heiligen Paulus sprechen: „Wer vermag uns zu scheiden von der Liebe Christi? Etwa Trübsal oder Bedrängnis oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert?" (Röm.8,35).

Auf die Ehrlichkeit unserer Liebe kommt es an. Zuerst müssen wir umkehren von jeder Sünde und jeder falschen Anhänglichkeit an die vergänglichen Werte. Darin bezeugen wir unseren Glauben an Gott und ermöglichen der Gnade Gottes den Zutritt in unsere Herzen. Wenn wir uns dieser Gnade erfreuen, dann können und dürfen wir uns an der Nähe Gottes freuen, der zu uns gekommen ist, uns zu erlösen!

Diese Hoffnung auf das Reich Gottes ist kein bloßer Traum oder eine innerweltliche Angelegenheit, wie es manche Ideologien oder Religionen nahelegen. Es geht bei der Erwartung des Reiches Gottes um den letzen Sinn der ganzen Schöpfung, um die gnadenhafte Wirklichkeit, die sich mit dem Kommen Jesu Christi anfanghaft verwirklicht hat und die sich durch unser Mitwirken mit der Gnade Gottes sowohl sichtbar als auch unsichtbar entfalten will.

Wir dürfen uns also nicht mit Zerrformen zufrieden geben, welche den wahren Gott und Seine unendliche Liebe verkennen oder ganz ausschließen.

Wenn jemand wirklich das Reich Gottes erwartet, dann öffnet er sein Herz, dann lebt er nicht mehr ohne Liebe und ohne Sinn. Er lebt dann im Bewusstsein des höchsten Zieles, das letztlich den alleinigen Wert unseres ganzen Lebens ausmacht. Er erfasst so den Wert der ganzen Schöpfung in klarem Licht. Er lebt für Gott und für Seinen heiligen Willen und im Bewusstsein, dass nicht blinder Zufall oder menschliche Kraft die Geschicke der Welt und der Kirche lenken, sondern Gottes weise und gütige Vorsehung, und er versteht, dass Gott auch durch Schwierigkeiten oder durch die Schwachheit von Menschen Gutes bewirken kann.

Nicht menschliche Rücksicht, nicht Stolz oder Eigenwille, sondern nur diese Gesinnung ehrlicher und offener Rückbesinnung auf die Liebe und Wahrheit Christi sollen uns in unserem Tun bestimmen, auch in der Verteidigung des Glaubens heute! Nur so können wir beginnen, das Angesicht der Kirche, das heute oft und von vielen, auch durch unsere Sünden, entstellt ist, wieder zu erneuern.

„Die Pforten der Hölle werden sie nicht überwältigen" (Mt.16, 18). Jesus Christus hält auch heute Seine Kirche in Seiner Hand. Wo wir Seine Hilfe erfahren, sollen wir sie auch anerkennen und dankbar sein, wo wir Seine Hilfe brauchen, weiter bitten! So wollen und dürfen wir weiter für Sein Reich eintreten, um sein Kommen beten, andere im Glauben stärken und so Glaube, Hoffnung und Liebe mit Gottes Hilfe schlicht und treu im Alltag in die Tat umsetzen, wie es auch Maria und alle Heiligen in den Schwierigkeiten ihrer Tage getan haben. Mögen sie für uns und für die katholische Kirche unserer Tage beten, damit auch wir würdig werden, am Reich Gottes mitwirken und teilhaben zu dürfen, bis Christus einst kommen wird, um Sein Reich und vor allem uns selbst in Seiner Liebe zu vollenden.

Thomas Ehrenberger

 

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