Die Hingabe an Gott


Im Verlauf Seiner Predigttätigkeit hat Jesus Christus immer wieder vor großen Menschenmassen das Evangelium verkündet. Da Er wollte, daß jeder ohne Ausnahme sich bekehre und an Ihn glaube, um auf diese Weise Anteil am Himmelreich zu erlangen (vgl. Mt 4,17; 28,19f.), waren Seine Worte für alle Menschen gedacht gewesen. 

So ist z.B. zu Beginn der Bergpredigt die Rede von den “Volksscharen”, die Er lehrte (Mt 5,1f.). Auch die wunderbare Brotvermehrung geschah vor einer “großen Volksmenge” (Joh 6,2), allein an Männern waren es “etwa fünftausend an der Zahl” (Joh 6,10) - eine für damalige Verhältnisse beträchtliche Zahl! Die sonstigen Wunder und Belehrungen Jesu Christi erfolgten in der Regel ebenfalls nicht vor einem äußerst engen oder bewußt eng gehaltenen Kreis der Zeugen bzw. Zuhörer. Seine zahlreichen öffentlichen Auftritte belegen dies (vgl. nur Joh 7-10). 

Dennoch haben bei weitem nicht alle, die dies alles miterleben durften, Christus Glauben geschenkt und den Wahrheitsgehalt Seiner Worte erkannt. Nur relativ wenige waren oder fanden sich bereit, ihr Leben nach den sittlichen Forderungen Seines Evangeliums zu ändern und Ihm so nachzufolgen, wie Er es von ihnen erwartete und verlangte. Zwar “wurden die Volksscharen von Staunen über Seine Lehre ergriffen” (nach der Bergpredigt - Mt 7,28), zwar waren sie hingerissen von Ihm, so daß sie “Ihn mit Gewalt zum König machen wollten” (nach der Brotvermehrung - Joh 6,14f.), zwar kannte ihre Freude über Ihn zeitweise fast keine Grenze (so beim feierlichen Einzug in Jerusalem - Mt 21,8-11). Und dennoch haben Ihn viele davon lediglich einige Tage später verleugnet, einem Kapitalverbrecher hintenan gestellt, verfolgen, martern, kreuzigen und sterben lassen. Wie viele harrten denn unter dem Kreuz Christi aus? Auch in der Zeit danach hat bei weitem nicht jeder (wieder) zum Glauben an Jesus Christus gefunden, und dabei eine Glaubensfestigkeit erlangt, die sich vielfach auch in blutiger Verfolgung bewährte. 

Was ist nun der Grund dafür, daß der eine zum Glauben an Jesus Christus gekommen ist und der andere, der doch dasselbe erfahren und erleben durfte, nicht? Worin liegt die Ursache für den Glauben und für die Ungläubigkeit? Warum fand sich denn auch unter den Aposteln einer, der sogar dazu bereit gewesen war, seinen Lehrer und Meister, der ihm und seinen Mitaposteln lange genug geduldig die “Geheimnisse des Himmelreiches” erklärte, an Seine böswilligen Feinde zu verraten? Im Hinblick auf die neuere Zeit ist ebenfalls zu fragen, welcher Umstand es denn den einen Menschen ermöglicht, die Wahrheit Jesu Christi zu erkennen und die anderen, die sonst anscheinend doch alle Voraussetzungen mitbringen, um zum christlichen Glauben zu finden (z.B. Erziehung, Vorbild), im Dunkeln tappen läßt? 

Wohl kann letztendlich nicht der Herrgott selbst dafür verantwortlich zeichnen. Denn würde Er in purer Willkür dem einen die Glaubensgnade schenken und den anderen bewußt davon ausschließen (so Kalvin), würde Er einem boshaften Despoten gleichkommen. Das christliche Bewußtsein kann sich auf keinen Fall damit anfreunden. Zwar gibt es verschiedene Gnadengaben, die Gott jedem nach Seinem wohldurchdachten Ratschluß gibt, wie Er will, zwar werden diese Gnaden nicht immer jedem im gleichen Maß ausgeteilt. Dennoch bekommt nach dem Glauben der katholischen Kirche jeder Mensch genug Gnaden, um selig zu werden, um Gott, um das Gut-Sein Gottes zu erkennen. Also muß der Grund dafür, ob nun der Mensch zum Glauben an Gott als das höhere und vollkommene Wesen kommt oder nicht schließlich doch irgendwie beim einzelnen Menschen liegen, also trägt doch jemand, der hinreichlich über den christlichen Glauben informiert ist, die Verantwortung darüber, ob er nun bewußt ein Christ wird und als solcher lebt oder nicht. 

Wenn wir das diesbezügliche Verhalten jener Personen untersuchen, von denen das Evangelium handelt, fällt uns deren jeweils verschiedene Einstellung Jesus Christus gegenüber auf. Offenkundig waren die einen bereit, Ihm ihre Aufmerksamkeit und ihr inneres Gehör zu schenken, offenkundig haben sie sich Ihm gegenüber ernsthaft in ihrem Herzen geöffnet, sich bewußt auf Seine Person eingelassen! Und je mehr sie sich dann um eine grundsätzlich sittliche Lebenshaltung bemühten und den heiligen Willen Gottes über das rein diesseitlich-menschliche, das sogenannte weltliche Denken stellten, umso mehr strahlte ihnen auch das ewige und unerschaffene Licht Gottes in Jesus Christus auf! Die geistige Umkehr und Erneuerung war die Folge. 

Die anderen dagegen haben (willensmäßig) diese Bereitschaft, sich durchgängig vom eigenen Ich, von der übermäßigen Wertschätzung der eigenen Privatperson, vom Streben nach Macht und weltlichem Ruhm usw. loszureißen, nicht aufgebracht. Oder es lag bei ihnen überhaupt keine Absicht vor, das eigene Denken und Handeln gottkonform zu gestalten (vgl. Mt 3,5-10). Die Folge des (bewußten) Verbleibens in der Sünde und Gottesferne besteht aber in der zunehmenden Verdunkelung des Verstandes und der Verminderung der positiven sittlichen Kräfte im Menschen. Der Gnade Gottes wird in ihrer Wirksamkeit und Effektivität - je weiter, umso stärker - ein Riegel vorgeschoben, so daß in diesen Menschen die Wahrheit Christi verdunkelt oder sogar bis zur Unkenntlichkeit entstellt wird. Und mit dem Fortschreiten der (bewußten) Entfremdung von Gott wird der (in Sünden behaftete) Mensch auch zunehmend anfällig für die im Widerspruch zu Gott stehenden Kräfte. 

Daraus wird ersichtlich, daß der Glaube nicht einseitig aufgefaßt werden kann, als sei er lediglich intellektuell, bloß als eine Angelegenheit des Verstandes zu betrachten. Er hat auch eine höchst praktische Komponente - die Einstellung des Menschen, mit der er dem Heilsangebot Gottes in Jesus Christus begegnet, entscheidet darüber, ob er nun das unerschaffene Licht Gottes (früher oder später) erkennt und es für sein Leben fruchtbringend einsetzt oder sich selbst Hindernisse auf dem Weg zur Erkenntnis Gottes stellt. Nur der, der bereit ist, aufs Ganze zu gehen, der sich bemüht, sich für den Herrgott ganz zu öffnen, sich auf Ihn allumfassend einzulassen, der findet auch zu Ihm, der kämpft sich auch durch zur beseligenden Erkenntnis des einzig wahren Gottes, mit der dann die innere Ruhe und der Frieden der Seele einhergehen! 

Wer aber dagegen trotz vielen Wissens über Gott und den christlichen Glauben zur ganzheitlichen und uneingeschränkten Hingabe an Ihn nicht bereit oder darin (noch) unentschlossen ist, wer u. a. vielleicht auch ängstliche Scheu vor Konsequenzen hat, die sich zweifelsohne auf dem Weg der (beherzten) Nachfolge Christi ergeben, der verbleibt in seinem inneren Zögern und Zweifeln, dem bleiben der Glanz der Wahrheit und die geistige Schönheit Gottes verborgen. Die Hohenpriester, Schriftgelehrten und Pharisäer, die doch sonst alle Voraussetzungen erfüllten, Jesus Christus als Den zu erkennen und anzuerkennen, Der Er war, wurden bzw. blieben verstockt. Ein Hauptmann von Kafarnaum (Heide!) oder eine Maria Magdalena (öffentliche Sünderin!), die nicht unbedingt im Rufe standen, besonders gottesfürchtig zu sein, fanden dagegen zum Gottessohn und wurden von Ihm wegen ihres außergewöhnlichen Glaubens bzw. ihrer großen Liebe sogar gelobt! 

Wie oft bleiben denn heute auch viele sogenannte halb-konservative Katholiken in der Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen modernistischen “Reformen”, die in der offiziellen Amtskirche stattgefunden haben, auf halbem Weg stehen, weil sie sich offensichtlich vor klaren Aussagen und eindeutigen Schritten fürchten? Obwohl sie im Prinzip um die zerstörerische Kraft dieser “Neuerungen” wissen dürften und einige deren negativen Auswirkungen auch gern bekämpfen (würden), sind sie oft aus falscher Rücksicht auf die modernen “Autoritäten” und/auch auf die Meinung der Mehrheit nicht bereit, das eigentliche Problem und alle dafür Verantwortlichen in voller Deutlichkeit beim Namen zu nennen und für sich daraus entsprechend Konsequenzen zu ziehen.

Ebenfalls kann die Glaubenshaltung nicht bloß darin bestehen, sich nicht darin erschöpfen, bloß die Zehn Gebote, die Gott als der Allmächtige den Menschen kundgetan hat, zu halten, als sei damit schon der Kern der Sache getroffen. Dies trifft so nicht zu. Nein, der Glaube im christlichen Sinn ist vor allem eine Lebenshaltung: sowohl die Erkenntnis, unmittelbar vor dem lebendigen Gott zu stehen, als auch das grundsätzliche Interesse, sämtliche Bereiche des eigenen Daseins in die Beziehung mit diesem Gott einzubeziehen, als auch der ernsthafte Wille, eine entsprechend positive lebensmäßige Antwort auf das Liebensangebot Gottes zu geben! 

So läßt sich Gott auch heute nur von jemand finden, der Ihn aufrichtig sucht, der mit der inneren Umkehr beginnt und sich selbst als Einsatz bringt. Vielleicht hat man in der Vergangenheit bei der Vermittlung des Glaubens diese praktische Seite nicht genügend betont. Ist dies nicht auch als eine der Ursachen für die neuzeitliche massenhafte Abkehr von Gott und Seiner Kirche zu erblicken? Die Liebe (Gottes) läßt sich ja nicht einseitig rein intellektuell erklären. 

Wenn wir also den gesunden Glauben bewahren, wenn wir allen Anfechtungen und Versuchungen der modernen glaubenslosen und oft auch antichristlichen Welt erfolgreich widerstehen wollen, müssen wir tagtäglich die Bereitschaft aufbringen, uns für den Herrgott zu öffnen, uns auf Ihn richtig einzulassen, nichts von uns vor Ihm verbergen oder Ihm vorenthalten zu wollen. Nur dann werden wir lernen, Ihn von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit allen unseren Kräften zu lieben und uns in dieser Liebe ständig zu vertiefen! 

 

P. Eugen Rissling


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