Domine, non sum dignus!


Vor allem im Laufe des letzten Jahrhunderts hat der technologische Fortschritt in der Menschheit enorm zugenommen. Wenn wir zum Beispiel unsere heutigen Transport- und Kommunikationsmittel mit denen von vor 100 Jahren vergleichen wollten, würden wir einen Unterschied wie zwischen Tag und Nacht feststellen. Der Mensch kann heute, um nur einige wenige Beispiele anzuführen, den Mikro- und Makrokosmos untersuchen, ins Weltall fliegen, schwere und lebensrettende Herz- und sonstige Operationen durchführen, komplizierte Computersysteme entwickeln... Auch wenn sich natürlich nicht immer alles zum Nutzen und zum Vorteil der Menschen entwickelt hat (siehe zum Beispiel nur die furchtbare Zerstörungskraft der modernen Waffen oder so manche negativen Früchte der medizinisch-pharmazeutischen Forschung), so erleichtert die moderne Technik insgesamt betrachtet doch enorm unser Leben. Denn der einfache Bürger der Gegenwart lebt heute in unseren Landen viel bequemer als Könige und Kaiser der Vergangenheit!

Aber dieser gesamte Prozess wird fast parallel dazu von einer weniger vorteilhaften Entwicklung begleitet. Denn es macht oft den Eindruck, dass sich der Mensch mit einer jeden weiteren Stufe des technologischen Fortschritts immer mehr auf sich selbst etwas einbildet, zunehmend überheblich und hochmütig wird! Je mehr der Mensch die Geheimnisse der Natur entschlüsselt, desto mehr scheint er sich auch vom Herrgott trennen, ja IHN gänzlich „abschaffen“ zu wollen! Denn wenn die Menschen früher deutlich stärker von den Gewalten der Natur abhängig waren, so erkannten und anerkannten sie auch umso mehr die göttliche Oberhoheit. Und je mehr sie in der jüngeren Vergangenheit diese Natur in ihre Gewalt bekommen, desto mehr scheinen sie selbst Gott spielen und Seine Stelle mit sich selbst besetzen zu wollen!

Aber auch wir, katholische Christen, werden vielleicht von einer solchen überheblichen Haltung erfasst, indem wir uns im Gefolge so mancher vermeintlich oder auch tatsächlich vollbrachter Leistung etwas einbilden, indem wir sie uns gelegentlich zu sehr zu Kopf steigen lassen. Wir koppeln den Blick vom Geber aller guten Gaben ab, vergessen, dass es letztendlich „weder auf den ankommt, der pflanzt, noch auf den, der begießt, sondern auf Gott, der das Wachstum gibt“ (1 Kor 3,7), und finden statt dessen übermäßig Gefallen an uns selbst, an unseren eigenen Leistungen.

Aber vor allem sowohl unsere eigenen sittlichen Verfehlungen als auch die gewaltigen moralischen Entgleisungen so mancher Gesellschaftsschichten, Völker und Nationen im Lauf der Menschheitsgeschichte gäben uns genug Anlass, äußerste Vorsicht walten zu lassen, was sowohl unsere privaten „Leistungen“ angeht als auch die „Ergebnisse“ und den „Fortschritt“ der gesamten Menschheit betrifft. Wie oft wollte sich nicht schon der Mensch zu einer Art „Superman“ erklären, der alles wisse und alles könne. Und fast genau so oft musste er dann leider auch ein Desaster erleben und somit die bittere Grunderkenntnis vollziehen, dass der Hochmut immer kurz vor dem Fall kommt!

Nun, in der hl. Messe gibt es eine Stelle, die sehr lehrreich ist in diesem Zusammenhang. Unmittelbar vor der Austeilung der hl. Kommunion an die Gläubigen dreht sich der Priester mit dem Ziborium diesen zu und spricht mit einer konsekrierten Hostie in der Hand laut vor: „O Herr, ich bin nicht würdig, dass Du eingehst unter mein Dach; aber sprich nur ein Wort, so wird meine Seele gesund“. Und dieses „Domine, non sum dignus“ drückt das aus, was uns geistig erfüllen, wie unsere Seelenhaltung beschaffen sein, wovon wir innerlich beseelt sein sollten!

Denn wer könnte schon von sich behaupten, er hätte die Gnade Gottes verdient und sich ihrer würdig gezeigt? Wer könnte so anmaßend sein anzunehmen, er hätte einen Rechtsanspruch auf den göttlichen Gnadenbeistand, als ob Gott verpflichtet wäre, ihm stets helfend zur Seite zu stehen? Nein, einen solchen Anspruch haben wir nicht. Wir dürfen (und sollen!) Ihn bitten, uns nicht uns allein zu überlassen und uns stets mit Seiner Gnade helfend beizustehen, woraus wir dann natürlich auch die lebendige Hoffnung und das gesunde Vertrauen schöpfen dürfen, der Herrgott werde Seine Jünger nicht im Stich lassen. Aber die Gnade Gottes ist unsererseits immer und ausnahmslos unverdient, durch nichts zu beanspruchen - sie stellt immer ein sich dem sündigen Menschen aus freien Stücken zuwendendes Zuneigen des allmächtigen und barmherzigen Gottes dar!

Oder wer wollte schon meinen, er habe es irgendwie verdient, mit dem heiligen katholischen Glauben beschenkt und im Sakrament der Taufe „aus der Finsternis zu Seinem wunderbaren Licht berufen“ (vgl. 1 Petr 2,9) zu werden? Oder können wir von Gott verlangen, Er sei verpflichtet, uns in der hl. Messe dem unblutigen Opfer Seines Eingeborenen Sohnes zu unserem eigenen Heil beiwohnen und uns mit Sich selbst als himmlische Seelenspeise stärken zu lassen? Haben wir dies wirklich verdient? Nein, das ist letztendlich Gnade Gottes!

Oder müsse Er denn immer und unbedingt uns die Gelegenheit bieten, im Sakrament der Busse unsere Seele reinwaschen zu können? Haben wir dies wirklich unseren eigenen Rechtsansprüchen an Gott zu „verdanken“ oder nicht eher der unbegreiflichen Langmut und der unendlichen Liebe des göttlichen Erlösers mit uns, den armen und gebrechlichen Sündern?

Wir stehen jetzt inmitten der Passionszeit, in welcher wir doch von der katholischen Kirche in besonderer Weise an das bittere Leiden und den brutalen Tod Jesu Christi erinnert werden. Und da lohnt es sich ebenfalls, ernsthaft nachzudenken, ob wir es denn verdient haben, dass Jesus für uns und an unserer Statt alle diese einzelnen Stationen Seines furchbaren Leidensweges durchschritten hat.

Haben wir es verdient, dass Er im Garten Gethsemani „anfing zu trauern und zu zagen“, dass Seine Seele „bis zu Tode betrübt“ war, und Er im Wissen um die Furchtbarkeit des Ihm bevorstehenden Leidensweges sogar Blut geschwitzt hatte (vgl. Mt 26,37; Lk 22,44)? Haben wir es verdient, dass Er völlig wahrheits- und gerechtigkeitswidrig nur aufgrund eines falschen Zeugnisses zum Tode verurteilt und von Judas Iskariot für jämmerliche dreißig Silberlinge verraten wurde? Haben wir es verdient, dass Er sich für uns hat vom wilden Soldatenpöbel verspotten, ins Gesicht spucken und schlagen lassen? Nein, wir müssen ehrlich gestehen: das alles haben wir nicht verdient, wir sind alles dessen nicht würdig - Domine, non sum dignus!

War denn Jesus verpflichtet, sich vor Pontius Pilatus die ungerechten „Anklagen der Hohenpriester und Ältesten“ und das wütende Geschrei der tobenden Menschenmenge anhören zu müssen, die Ihn nur ans Kreuz wünschte? War denn Jesus verpflichtet, sich geißeln und die spitze Dornenkrone aufs Haupt setzen zu lassen, das schwere Holzkreuz auf Seinem Rücken auf Golgotha hinauf zu schleppen und dreimal unter der Last dieses Kreuzes völlig entkräftet zusammenzubrechen? War denn Jesus verpflichtet, von den „Vorübergehenden“ „gelästert“, von den „Hohenpriestern samt den Schriftgelehrten und Ältesten“ erneut „verhöhnt“ zu werden und sich anstelle des „berüchtigten Gefangenen namens Barabbas“ ans Kreuz schlagen zu lassen? Nein! - Domine, non sum dignus!

Haben wir denn irgendwie einen Anspruch darauf, dass der Gottessohn drei schreckliche Stunden am Kreuz hing, Sein kostbares Blut vergoss und den furchtbaren Erstickungstod starb, wobei Er zuletzt noch als letzten Fluch der (menschlichen!) Sünde die furchtbare Gottverlassenheit durchlitten hatte und in größter Seelennot „mit lauter Stimme rief“: „Mein Gott, Mein Gott, warum hast Du Mich verlassen?“ Wer wollte denn angesichts der Furchtbarkeit und der Unbegreiflichkeit dieses Leidens und Sterbens Jesu noch behaupten, er hätte wie auch immer einen gewissen Anspruch darauf!? Nein, hier gilt es, noch entschiedener zu sagen: Domine, non sum dignus - O Herr, ich bin nicht würdig!

Im Magnificat-Gesang beschreibt die Muttergottes die Beteiligung Gottes an den Geschehnissen um ihre Empfängnis mit folgenden Worten: „...Denn herabgesehen hat Er in Gnaden auf Seine niedrige Magd. [...] Großes hat an mir getan der Allmächtige. Heilig ist Sein Name. [...] Er verwirft die Herzen voll Hochmut. Gewalthaber stürzt Er vom Thron, Niedrige hebt Er empor. Hungrige erfüllt Er mit Gütern, Reiche lässt Er leer ausgehen“ (Lk 1,48f. 51-53).

Obwohl ihr also die höchste Auszeichnung zuteil werden sollte, zu der je ein Mensch fähig ist, - immerhin sollte sie ja Christi Mutter und Gottesgebärerin werden! - bildet sich Maria nichts darauf ein, bezeichnet sich selbst lediglich als Gottes „niedrige Magd“ und schreibt das ganze Verdienst letztendlich dem Herrgott zu, da Er ja auf sie „in Gnaden herabgesehen hat“ und „Großes“ an ihr „getan hat“. Und zugleich liefert sie auch den Grundsatz, nach welchem die göttliche Gnade gewissermaßen „funktioniert“: die in ihrem Herzen Hochmütigen werden verworfen, die Gewalthaber gestürzt und die, die alles auf irdischen Reichtum setzen und ihr Leben darauf bauen, müssen leer ausgehen; dagegen werden vom Herrgott, der ja die Herzen der Menschen erforscht (vgl. Röm 8,27), solche Menschen mit Seiner Gunst und mit Seinen „Gütern“ bedacht, welche in der Tiefe ihres Herzens letztendlich nicht auf die eigenen Fähigkeiten bauen und sich ganz und gar als der Gnade Gottes bedürftig erachten!

Das bedeutet nicht, dass der katholische Christ auch seine tatsächlichen positiven Leistungen immer nur leugnen und in Abrede stellen muss. Was wir an Gutem und Rechtem getan, das haben wir ja getan. Aber dennoch sollten wir dabei unbedingt darauf achten, dass wir uns nichts darauf einbilden, dass wir unsere guten Werke nicht auch insofern von Gottes Gnadenhilfe „abkoppeln“, dass das ganze Verdienst hauptsächlich uns selbst zugeschrieben werde, als ob wir dabei nicht auch und vor allem auf Gott angewiesen wären Seiner göttlichen Gnade bedürften!

Bemühen wir uns also in unserem täglichen geistlichen Kampf, immer mehr zu erreichen, dass wir ständig sowohl in der inneren Überzeugung davon zunehmen, ganz und gar auf die mannigfaltige Gnade Gottes angewiesen zu sein, als auch im heilsamen Wissen wachsen, von Gott getrennt und auf uns allein gestellt nichts im Hinblick auf die Ewigkeit Brauchbares zustande bringen zu können! Und zwar soll uns dies alles dann auch insofern langsam sozusagen in Fleisch und Blut übergehen und zur inneren Gewissheit werden, dass wir den folgenden Worten Christi entsprechen könnten: „So sollt auch ihr, wenn ihr alles getan habt, was man euch aufgetragen, denken: Wir sind geringe Knechte, wir haben nur unsere Schuldigkeit getan“ (Lk 17,10)!

Nur eine solche bescheidene Haltung schützt uns vor menschlicher Einbildung und verderblichem Hochmut, nur eine solche Demut des Herzens lässt uns immer mehr und immer intensiver Gott geistig näher kommen und innere Fortschritte erzielen. Denn letztendlich ist ja auch der Mensch der Gnade Gottes niemals würdig, hat sie durch keine seiner noch so wohlgemeinten Leistungen verdient: Domine, non sum dignus - O Herr, ich bin nicht würdig!


P. Eugen Rissling

 

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