Hunger nach Mehr


Der Mensch hat sich wahrscheinlich von Anfang an die große und wichtige Frage vorgelegt: „Wer bin ich, warum lebe ich?“ Wohl kaum ein Mensch ist nicht interessiert, eine Antwort auf die Frage nach dem Ursprung und dem Ziel des menschlichen Lebens, nach dem Sinn der eigenen Existenz zu finden. Man möchte (substanzielle und beständige) Orientierung finden, man möchte seinen Platz im Leben einnehmen. Wie wir sehen können, geht es bei dieser Problematik um den Grund allen Daseins. Und in diesem ganzen Zusammenhang stellt sich fast automatisch auch die Frage nach unserer Beziehung zu Gott, dem höchsten Wesen. Ist es ja auch eine der zentralen Fragen, ob es nämlich Gott gibt, und wie man gegebenenfalls zu Ihm steht. Dabei geht es uns nicht nur um den Mensch als einzelnes Individuum, sondern um die Menschheit allgemein, welchen Platz sie nämlich in der ganzen Weltordnung einnimmt. 

Nun gibt es hier zwei Grundanschauungen, die eine Art Antwort auf die gestellte Frage bieten - zwei große Welten, die jeweils von ganz anderen Ansätzen und Voraussetzungen ausgehen, und die entsprechend auch zu ganz anderen Ergebnissen führen. Auf der einen Seite finden wir das christliche Menschen- und Weltbild, das sich in unseren geografischen Breiten besonders klar im Mittelalter herauskristallisiert hat, dass nämlich der Mensch nicht vollkommen ist ohne Gott, dass dieses göttliche Element ebenfalls einen Bestandteil des menschlichen Daseins bildet. Mit anderen Worten: der Mensch ist nicht ohne Gott zu definieren! Dies bedeutet weiter, dass dieser Erdbewohner letztendlich auch nicht die volle Erfüllung finden kann, wenn er Gott aus seinem Leben ausschließt. 

Demgegenüber steht die gerade in der modernen Zeit so populär gewordene Weltanschauung, die diesen Anteil Gottes am Menschsein, am menschlichen Leben und Dasein eben bewusst leugnet. Der Mensch wird hier als jemand angesehen, der insofern in sich selbst bestehend und vollkommen ist, dass er nicht eines höchsten Wesens zum erfüllten Menschsein braucht. Der Mensch sei autark, er sei völlig selbstständig und komme voll und ganz allein zurecht. Mit anderen Worten: der Mensch, die menschliche Existenz sei völlig ohne Gott zu definieren! Deshalb bedürfe er auch in keinster Weise Gottes zum eigenen Glück und zur eigenen Erfüllung. 

Begünstigt wurde und wird diese Vorstellung unter anderem auch durch den enormen technischen und technologischen Fortschritt, den die Menschheit im letzten Jahrhundert tatsächlich errungen hat. Der Umstand, dass der Mensch z.B. die Erdanziehungskraft überwinden und ins Weltall fliegen kann, dass er inzwischen fähig geworden ist, die Atomenergie zu beherrschen oder auch enorme Leistungen auf vielen anderen Gebieten zu vollbringen, hat ebenfalls zur weiten Verbreitung der Auffassung beigetragen, Gott sei für den Menschen überflüssig. Der Mensch müsse, um voranzukommen, nur seine vorhandenen Kapazitäten ausschöpfen bzw. Seine Fähigkeiten weiter entwickeln. 

Viele unserer Zeitgenossen werden an dieser Stelle wahrscheinlich sagen, es sei halt jedem Menschen selbst überlassen, welche der beiden Voraussetzungen er favorisiert, welche Grundanschauung er teilt. Ist es denn wirklich wertmäßig in das Belieben des einzelnen gestellt, sich für die eine oder die andere Ansicht zu entscheiden? 

Nun ja, wohl jeder Mensch strebt in seinem Leben danach, die innere Erfüllung zu finden. Ob es uns nun bewusst wird oder nicht, aber bei allem, was wir tun, arbeiten wir auf dieses Ziel hin. Gerade jemand, der nach den Gütern dieser Welt strebt, tut dies ja wenigstens in der Absicht, Zufriedenheit zu erlangen. Und hat man ein Ziel erreicht, strebt man gleich nach dem nächsten - man sucht letztendlich das Glück, man sucht die allumfassende Harmonie! 

Aber immer wieder kommt es auch vor, dass wir dabei an unsere Grenzen stoßen! Entweder merken wir, dass wir in der bestimmten Sache nicht mehr weiter kommen, weil wir tatsächlich am Limit unserer Fähigkeiten oder des für den Menschen grundsätzlich Erlangbaren angekommen sind. Oder der Genuss dessen, was man erreicht oder erworben hat, und den man sich selbst versprochen hat, stellt sich trotz aller persönlichen Anstrengungen nicht ein. Oder die innere Erfüllung, die sich zeitweise eingestellt hat, hält nicht mehr länger an und verflüchtigt sich, so dass der Mensch wieder wie zu Beginn seines Strebens gewissermaßen „leer“ dasteht. 

Die Folge dieser an sich unangenehmen Erfahrungen ist das Gefühl der Unzufriedenheit. Obwohl man sich Mühe gab und in den Genuss vieler Dinge gelangte, empfindet man aber innerlich nicht entsprechend. Und so vernimmt der Mensch in seinem Inneren die Stimme, die ihm sagt, dass es mit den erlebten Dingen noch nicht alles sein kann im menschlichen Leben, dass es darüberhinaus noch mehr geben muss. Man weiß vielleicht nicht genau, was damit konkret gemeint ist, aber man nimmt in sich das Verlangen nach mehr wahr, als dass es bisher gegeben hat! 

Und dieser Hunger nach mehr zeigt an, dass diese innere Sehnsucht nicht akzidentell zum menschlichen Leben hinzukommt, dass sie nicht als völlig überflüssiges Anhängsel angesehen werden kann. Nein, der Mensch ist substanziell, d.h. seinem Wesen nach, für dieses Mehr, für das Streben nach allseitiger und allumfassender Vollkommenheit geöffnet! Und diese Öffnung für die höhere Welt wird nebenbei auch an der Tatsache ersichtlich, dass der Mensch als solcher ständig alles nach gut und schlecht, nach richtig und falsch, nach akzeptabel und verwerflich beurteilt. Weil er sich eben im Besitz dieser inneren Werteskala befindet, kennt er auch in seinem Herzen den Begriff dessen, was gut und was vollkommen ist! Letztendlich bedeutet dies nichts anderes, als dass jeder Mensch für die höhere Welt, sprich für Gott, geöffnet ist, dass auf Ihn angelegt ist, dass er zu guter Letzt bewusst oder unbewusst auch einen Hunger nach Ihm als dem guten und vollkommenen Wesen empfindet! Wenn man dies alles analysiert, kommt man zum Schluss, dass dieses Streben nach mehr, nach Gott offensichtlich zum menschlichen Dasein gehört. Denn man hat ja das Verlangen danach, ist es ja beim Menschen unabhängig davon, wie oft er es verspürt, grundsätzlich vorhanden. Und das zeigt an, dass der Mensch offensichtlich doch nicht voll und ganz ohne Gott auskommen kann, dass er seinem Wesen nach auf diese Beziehung zu Ihm angelegt ist, dass Gott zum menschlichen Dasein gehört! Und das bestätigt das christliche Weltbild. 

Gute und schlechte Menschen gab und gibt es zu jeder Zeit und in jedem Land. Denn jeder Einzelne muss sich natürlich immer selbst angesichts der sittlichen Forderung, die er durch die Stimme des Gewissens vernimmt, moralisch entscheiden. Auch darf man nicht alle über einen Kamm scheren. Aber dennoch ist es gestattet, die einzelnen Weltanschauungssysteme als solche einer Prüfung zu unterziehen, wie in ihnen z.B. die zwischenmenschlichen Beziehungen gehandhabt wurden. Und dabei fällt auf, dass es in diesem Zusammenhang gerade bei jenen staatlichen Systemen und Gesellschaften besonders übel zugegangen ist, die von vorne herein und ganz bewusst jeglichen Bezug zu Gott ausgeschlossen haben. Diese Weltanschauungen haben trotz schöner Parolen und Schlagwörter eine besonders raue Art zwischenmenschlichen Umgangs gepflegt. 

Denken wir etwa an die Französische Revolution, die sich zwar Gleichheit, Freiheit und Brüderlichkeit auf die Fahnen geschrieben hat, die aber in der Praxis das Leben ihrer politischen Gegner nicht einmal für einen Pfennig wert gehalten hatte. Gehört ja auch die Guillotine zu ihren markantesten Markenzeichen. Nicht weniger sanft ist man mit dem sogenannten „Klassenfeind“ auch im leninistisch-stalinistischen Russland umgegangen, das ebenfalls Gott aus seiner Mitte verbannt hatte.

Auch wenn in unserer heutigen Gesellschaft verbal viel von Mitmenschlichkeit und Toleranz gesprochen wird, darf uns das trotzdem nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie letztendlich ebenfalls den Herrgott aus ihrer Mitte verbannt hat. Soll es uns dann wirklich noch sehr wundern, dass z.B. die Abtreibung, die Tötung ungeborenen Lebens, zum Erscheinungsbild der Gegenwart gehört? 

Da muss Dostojewski völlig recht gegeben werden, der die Auffassung, dass es keinen Gott gäbe, mit der Bemerkung kritisierte, dann sei alles erlaubt. Und tatsächlich sehen wir, dass in sämtlichen Staaten und Gesellschaften, die nicht mehr das göttliche Gesetz zum Maßstab ihrer Rechtsprechung und ihres Handelns machen, das Recht und die Wahrheit an irgendeiner Stelle immer himmelschreiend mit Füßen getreten wird. So tritt an die Stelle Gottes als der obersten moralischen Instanz das Chaos der menschlichen sittlichen Unzulänglichkeit! 

Vergessen wir uns also nicht, dass wir letztendlich nicht für diese Welt, die „in Finsternis und Todesschatten“ liegt (vgl. Lk 1,79), erschaffen worden sind. Unsere Bestimmung ist sozusagen der Himmel, wir sollen die Teilhabe am Leben Gottes, am unerschaffen Licht Jesu Christi gewinnen. Lassen wir uns den Blick dafür durch keine vergängliche irdische Freude versperren. Im Gegenteil, die innere Sehnsucht nach mehr, nach Gott soll uns immer die wahren und bleibenden Werte in Erinnerung rufen und unser Handeln auf dem rechten Weg nachhaltig bestimmen! 

 

P. Eugen Rissling



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