Was heißt “Glauben”?


Auf die Frage, was denn die zentrale Tätigkeit eines religiösen Menschen sei, worin sich dieser von einem Atheisten unterscheide, würde wahrscheinlich die überwiegende Zahl unserer Zeitgenossen trotz bedauernswerter Verweltlichung der Gesellschaft und gleichzeitiger Entfremdung vom christlichen Glauben zutreffenderweise antworten, der Glaube an Gott (“Gott” hier noch ganz allgemein) sei das besondere Merkmal der religiösen Haltung eines Menschen. 

Das Christentum betrachtet den Glauben an Gott ebenfalls als das erste und wesentliche Erkennungszeichen eines Christen. Die Menschen sollen glauben und so das ewige Leben, das Heil in Gott, erwerben. Die Worte Jesu Christi, des Stifters der christlichen Religion: “Wer glaubt und sich taufen läßt, wird gerettet werden; wer aber nicht glaubt, wird verdammt werden” (Mk 16,15f.), können hier stellvertretend für das ganze Neue Testament genommen werden. Ohne Zweifel sind dagegen größere Meinungsverschiedenheiten zu erzielen auf die Frage, was denn unter diesem Vorgang des “Glaubens” genauer zu verstehen, wie er seinem Wesen nach zu definieren sei. Gerade in der heutigen Zeit gibt es viele Vorstellungen über die Tätigkeit, die allgemein als “Glauben” bezeichnet wird. Jeder denkt sich halt etwas anderes darunter, nicht selten widersprechen sich diese Auffassungen gegenseitig, gelegentlich sind sogar abenteuerlichste Ansichten anzutreffen. Und dennoch steht alles unter dem Oberbegriff “Glauben”. Auch daher ist es wichtig, sich darüber im klaren zu werden und zu bleiben, was dieser Begriff aus der christlichen Sicht bedeutet. 

Einer zweifelsohne großen Popularität erfreut sich heute unter jenen Menschen, die sich selbst noch als religiös bezeichnen, die Auffassung, es gebe bzw. es müsse ein irgendwie geartetes höheres Wesen geben, auf welches unser aller Dasein zurückzuführen, das auf irgendeine Weise für unsere Existenz verantwortlich sei. Man nimmt an, dass dieser “Gott” existiert, dass man sich an ihn in der eigenen schweren Stunde um Trost, Kraft und Ermunterung wenden kann. Allerdings geht man dabei wie selbstverständlich davon aus, dass dieser “Gott” dem Menschen eigentlich verborgen bleibe, dass der Mensch ihn nicht erkennen könne. Man sei nicht in der Lage, näher zu bestimmen, wer und wie er sei; man sei nur fähig zu sagen, dass es ein höheres Etwas geben müsse. Somit besteht nach dieser modernen Glaubensdefinition die menschliche Aktivität des “Glaubens” lediglich in der Annahme der Existenz dieses “Gottes” und im Kraft- und Trostschöpfen in schwerer Stunde. 

Entsprechend ist auch nichts bzw. kaum etwas über die konkreten sittlichen Forderungen dieses “Gottes” zu vernehmen. Woher soll man auch wissen, was Gott will, wenn man nicht einmal weiß, wer Er ist? So nehmen auch bei vielen modernen “Christen” eigentlich die viel angepriesenen Menschenrechte den Platz der Gebote Gottes ein. Denn sämtliche allgemein mehr oder weniger anerkannte Anforderungen und Verhaltendregeln im Umgang miteinander werden fast ausschließlich eben von diesen Menschenrechten abgeleitet. Ja sogar in der religiösen Praxis vieler heutiger “Kirchen” tritt der ausdrückliche Wille Gottes weniger in Erscheinung als jene Ideale des zwischenmenschlichen Verhaltens, die allein von der andauernd behaupteten Menschenwürde her abgeleitet werden. Die Religion als solche wird auf ein bißchen Humanismus und zwischenmenschliche Nettigkeit herabgestuft! 

Ja, man ist sich heute bei weitem nicht einmal einig, ob “Gott” überhaupt ein persönlicher Gott sei. Einige gehen noch davon aus, dass ihr “höheres Wesen” mit persönlichem Willen ausgestattet ist. Andere dagegen lehnen auch noch diesen letzten Rest des christlichen Gottesbildes ab. Wird ja auch häufig genug unter “Gott” die Natur und das Weltall, eine überirdische “Kraft” oder auch ein irgendwie gearteter “großer Geist” angenommen. Diese Vorstellungen sind zweifelsohne eine der Folgen des vorherrschenden viel zu allgemeinen und verschwommenen Gottesbegriffs. Wenn angeblich sogar grundsätzlich keine konkreten und allgemein verbindlichen Aussagen über Gott möglich seien, dann kann ja der Mensch auch nichts anderes als sich jeweils das unter “Gott” vorstellen, was ihm sein momentaner, rein persönlicher und ohne jeden Zweifel begrenzter Wissensstand erlaubt. Bleibt ja dem Menschen angesichts der vermeintlichen Undefinierbarkeit “Gottes” nichts anderes übrig, als sich seinen eigenen “Gott” zusammenzubasteln, als nach eigenem Dafürhalten selbst in “Gott” etwas hineinzuprojizieren. 

Daraus wird dann heute häufig ebenfalls die Schlußfolgerung gezogen, man sei grundsätzlich in der Lage, auch ohne nähere Bindung an irgendeine Religion auszukommen. Die Mentalität, man könne auch im Wald zu Gott beten, dafür müsse man nicht unbedingt in die Kirche gehen, ist ja ziemlich verbreitet. Wenn sich der Mensch selbst seinen “Gott” und seinen “Glauben” “entwerfen” kann, dann ist diese Auffassung nur folgerichtig. Vernimmt man dennoch gelegentlich Stimmen, die sich zugunsten der Zugehörigkeit zu einer der “Kirchen” aussprechen, wird als Grund hierfür meistens nur der soziologische und pädagogische Vorteil der kirchlichen Bindung angegeben. Inzwischen ist es ja auch sogar schon in “kirchlichen” Kreisen allgemeine “Überzeugung” geworden, dass es - was jedenfalls den wesentlichen religiösen Bereich angeht - kaum einen bis keinen Unterschied mache, ob und gegebenenfalls welcher Religion oder Konfession man angehöre. Nicht nur seien alle Religionen gleichwertig, der Mensch könne im Bedarfsfall sogar allein, d.h. aus eigener Kraft und ohne die Hilfe irgendeiner Religion zu “Gott” finden. 

Kennt man sich aber nur entfernt mit der Lehre der Hl. Schrift und der christlich-katholischen Religion in Sachen “Gott” und “Glauben” aus, weiß man, dass sie sich wesentlich von den gerade dargestellten und zur Zeit populären Glaubensdefinitionen unterscheidet. Denn schon das Alte Testament ging im Hinblick auf das Wesen und die Eigenschaften Gottes von ganz anderen Voraussetzungen aus. Die Israeliten wußten nämlich, dass Gott nicht eine undefinierbare und unbestimmbare Größe ist, sondern ganz konkret und historisch greifbar in die Geschichte eingegriffen hat! Gleich das erste Buch der Hl. Schrift, das Buch Genesis, beginnt mit dem Bericht von der Erschaffung des Weltalls und des Menschen durch Gott. Ganz unabhängig von der Frage, ob dieser Schöpfungsbericht in jeder Einzelheit immer wörtlich zu nehmen ist (er ist nämlich kein naturwissenschaftliches Werk!), steht fest, dass Gott als der dargestellt wird, der alles einzeln ins Dasein ruft. 

Auch in der Folge bezeugt praktisch jede Seite der Hl. Schrift - und häufig genug in allen Einzelheiten - das ganz konkrete und für die Menschen eindeutig vernehmbare Eingreifen Gottes in die Geschicke Seines Volkes. Die einmalige Erwählung, vielseitige Führung und mannigfache Errettung der Israeliten aus verschiedenen Nöten finden hier eine besonders ausführliche Erwähnung - jeder kann es nachlesen. Zwar ist und bleibt Gott unbegreifbar - wer will behaupten, die Tiefe des Reichtums Gottes ausschöpfen zu können? -, dennoch erfuhr Israel in konkreter Situation, was der Herr im einzelnen zu seinen Gunsten getan hat. 

Eins steht als unanfechtbar fest: das Volk Israel wußte ganz genau, dass sein Bundesgott ein persönlicher Gott ist, Der zu ihm spricht, Sich ihm mitteilt und ihm entsprechend auch Seinen Willen, die sittlichen Forderungen, kundtut. Und zwar geschieht dies alles nicht etwa nur allgemein und verschwommen, sondern ganz konkret und in aller nötigen Klarheit. Allein ein kurzer Blick auf die zahlreichen Gebote, Verbote und die anderen moralischen Forderungen, die im Alten Testament als der ausdrückliche Wille Gottes dargestellt werden, vernichtet jeglichen Schatten eines Zweifels daran! 
Nicht anders geht auch das Christentum an die Gottesfrage heran - es bestätigt zunächst voll und ganz den Glauben Israels an einen persönlichen und konkret handelnden Gott, der sowohl zu den Propheten und Vätern gesprochen als auch große Wunder vor und an ihnen gewirkt hat. Schon allein die Verteidigungsrede des Erzmartyrers Stephanus vor dem Hohen Rat (Apg 7,2-53) beweist zur Genüge, dass auch die junge Christenheit ein ganz lebendiges Bewusstsein von dem einzeln feststellbaren Handeln Gottes in der menschlichen Geschichte besessen hat. 

Darüberhinaus geht dieses historische Wirken Gottes in der Zeit des Neuen Testamentes qualitativ einen entscheidenden Schritt weiter. Schon zur Zeit des Alten Bundes mußte sich Gott nach der Art eines Menschen an die Menschen wenden - beim “Sprechen” Gottes (z.B. zu Moses) darf wohl an eine menschliche Stimme gedacht werden, beim “Schreiben” (der Gesetzestafeln) an eine für Menschen lesbare Schrift (vgl. Ex 24,12). Jetzt aber “vermenschlicht” Sich Gott ganz, Er wird Mensch! Ohne aufzuhören, Gott zu sein, wird Er ein ganz konkreter Mensch. Indem die historische Person Jesus von Nazareth spricht und handelt, spricht und handelt niemand geringerer als der ewige, allmächtige und allheilige Gott selbst! Kreist ja in den Evangelien alles um die historisch nachweisbaren Tatsachen der gnadenreichen Geburt Jesu Christi aus der Jungfrau Maria und des heilbringenden Wirkens Gottes in einer ganz bestimmten Zeit und an einem ganz bestimmten Ort, dessen Höhepunkt in Seinem Leiden und Sterben sowie in Seiner glorreichen Auferstehung von den Toten besteht. 

Die Folge dieser letzten und höchsten Konkretisierung der Erscheinung Gottes unter den Menschen ist, dass man seit annähernd zweitausend Jahren grundsätzlich um das Wesen und den Willen Gottes wissen kann. Man kann nun nicht mehr “an Gott glauben”, ohne an den christlichen Gott zu glauben; man kann nicht mehr allgemeingültige Verhaltensregeln entwickeln, ohne dabei die entsprechenden Lehren des Evangeliums gebührend zu berücksichtigen! Denn jegliche Gottesvorstellung muß sich seitdem mit dem christlichen Gottesbild messen, und jegliche Morallehre ist mit dem christlichen Sittlichkeitsideal zu vergleichen. 

Somit führt mit dem Wirken Gottes auf Erden kein Weg an diesem “vermenschlichten” Gott vorbei! Denn es ist widersprüchlich, an Gott zu glauben, ohne dabei zugleich an Jesus Christus, den eingeborenen Sohn des Vaters, zu glauben. Weder sind Allah, Buddha usw. bloß andere Namen für den einen wahren Gott (“Niemand kennt den Sohn als nur der Vater, und niemand kennt den Vater als nur der Sohn und der, dem der Sohn es offenbaren will”, - Mt 11,27), noch stellen nichtchristliche Religionen einen ordentlichen Weg zu Gott dar (“Freilich habt ihr Seine [Gottes] Stimme nie vernommen, Seine Gestalt nie gesehen und Sein Wort in euch nicht festgehalten, weil ihr ja Dem nicht glaubt, Den Jener gesandt hat” - Joh 5,37f.)! 

Solange “Gott” im Leben des Menschen hauptsächlich nur als eine abstrakt-theoretische Größe vorkommt, kann es auch keinen großen Bezug zwischen beiden zueinander geben. Alles bleibt mehr oder weniger trockene Theorie. Wie soll auch Gott für unser Leben bedeutsam werden, wenn Er sich für uns in unnahbarer Ferne befindet? 

Erfährt aber der Mensch sozusagen am eigenen Leib (indem er sich für Gott öffnet und sich auf Ihn einläßt!), dass der einzig wahre Gott konkrete Schritte unternommen hat, um ihm Seine Zuneigung zu bekunden, dann läßt sich auch eine ganz konkrete persönliche Beziehung des Menschen zum Herrgott aufbauen und unterhalten. Indem dieser Mensch erfährt, dass hinter jedem Wort und jeder Tat Gottes letztendlich Seine unendliche Liebe zu uns, Menschen, aufleuchtet, weiß er sich auch von Ihm geliebt und in Ihm geborgen - das Leben gewinnt eine viel höhere Qualität! Ein wahrhaft gläubiger Mensch läßt es aber nicht dabei bewenden. Durch das gläubig-staunende Betrachten der “Großtaten Gottes” (Apg 2,11) fühlt er sich auch angeregt und aufgerufen, die sich an ihn wendende Liebe Gottes nach dem Maße der Möglichkeit zu erwidern. Diese vom Menschen konkret erfahrbare göttliche Liebe veranlaßt den Christen, ebenfalls Gott zu lieben und Ihn auch weiterhin unbedingt lieben zu wollen! 

Sich rein äußerlich zu den Dogmen der katholischen Kirche zu bekennen, ohne dabei innerlich von der göttlichen Wahrheit mitbetroffen zu sein, wäre ein unzureichender Glaubensbegriff. Eine richtige Stütze für den Alltag kann dieser “Glaube” für niemand sein. Sich darüberhinaus zusätzlich zu bemühen, die einzelnen Gebote Gottes als Bekundungen Seines Willen zu befolgen, stellt zwar einen Fortschritt dar, kann aber dennoch noch nicht das Gelbe vom Ei sein. 

Erst wenn wir bereit sind, unser Leben ganzheitlich als Antwort auf die alles überwältigende und überragende Liebe Gottes aufzufassen, dringen wir zum wahren Verständnis der christlichen Lebensführung vor. Was Jesus Christus im einzelnen in Palästina gesagt und getan hat, soll von uns nicht bloß neutral zur Kenntnis genommen werden. Wir sollen uns davon angesprochen fühlen und erkennen, dass alles auch zu meiner eigenen Erlösung vollbracht wurde. Und das muß für uns lebensmäßig Folgen haben! 

Somit kann “Glauben” berechtigterweise auch als eine sich auf alle Bereiche des eigenen Lebens erstreckende grundsätzliche Haltung der (praktischen) Liebe zu Gott, als ein Leben angesichts des konkreten Eingreifens Gottes in die Menschheitsgeschichte definiert werden! Und je mehr sich der Mensch darin engagiert, um so tiefer dringt er auch in das herrliche Geheimnis der Liebe Gottes vor, um so intensiver darf er dann auch den Frieden Gottes verkosten! 

 

P. Eugen Rissling



10Das grundsätzliche (willentliche) Verweigern des eigenen Mitopferns durch die Kirche hätte folgerichtig auch Auswirkungen auf die Frage der Gültigkeit der Messe.
11Es ist hier wie auch sonst die Rede von der katholischen Kirche und nicht von der in Irrtümer sich verstrickten „Amtskirche“.
12Die moderne Tendenz anzunehmen, daß jeder Mensch in den Himmel kommen werde, ob er nun will oder nicht, stellt - weil ein unausweichlicher Zwang - den gröbsten Mißbrauch der menschlichen Freiheit und schließlich auch den des Menschen selbst dar!
13 Wohl gehört aber zum Opfer auch das Opfermahl!

 

 

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