"Großes hat an mir getan der Mächtige" (Luk 1,49)


"O Tiefe des Reichtums und der Weisheit und der Erkenntnis Gottes! Wie unerforschlich sind Seine Ratschlüsse, wie unergründlich Seine Wege! Denn wer erfaßt die Gedanken des Herrn? Wer ist Sein Ratgeber?" (Röm 11,33f.) 


Oft versuchen wir Menschen, den Willen Gottes zu erforschen, um zu wissen, wie die Pläne Gottes im Hinblick auf uns aussehen. Wohl jeder besitzt das Interesse, im voraus zu erfahren, was ihn erwartet, um sich auch besser darauf einstellen zu können. Wir haben natürlich auch eigene Vorstellungen von der Zukunft und schmieden so unsere Pläne. Durch konkrete Entscheidungen, die zu treffen sind und denen man nicht ausweichen kann, wird schließlich diese Zukunft von uns auch gestaltet bzw. mitgestaltet. Wenn aber die Zukunft Gegenwart wird, und wir sie im richtigen Licht sehen, dann müssen wir oft feststellen, daß die von Gott in Seiner Vorsehung bevorzugte Lösung die viel bessere ist. Vorher meint man, die richtige Lösung gefunden und den optimalen Weg zum Ziel gewählt zu haben. Nachher erkennt man aber, wie sehr doch Gott über unseren begrenzten menschlichen Verstand erhaben ist, wie weise und klug Er doch alles für uns geregelt hat! Unser Nachsinnen kann nicht mithalten mit der Allwissenheit und Allweisheit des Herrn, der am besten weiß, was für uns gut ist und wie es für uns gut ist. 

Wenn der Mensch dann auch noch die Wege in Betracht zieht, auf denen Gott in wunderbarer und in einer für uns oft völlig unerwarteten Weise Sein Vorhaben realisiert, dann kann sich der Mensch die göttliche Weisheit nur anerkennend vor Ihm verbeugen und jedes Mal von neuem in tiefer Andacht die aus der Erfahrung hervorgegangenen Worte des Völkerapostels, des hl. Paulus, wiederholen: “Wie unerforschlich sind Seine Ratschlüsse, wie unergründlich Seine Wege!” Auch die allerseligste Jungfrau Maria mußte bzw. durfte diese Erfahrung machen. Dem alttestamentarischen jüdischen Volk wurde die Ankunft des Messias prophezeit. In den hl. Büchern - besonders bei den Propheten - stand ja geschrieben, daß der Erlöser kommen und Sein Volk befreien werde. Diese Messiaserwartung war bei den Juden kurz vor der Ankunft Jesu allgemein verbreitet, und auch sehr lebendig. Verstärkt wurde sie durch die politische Abhängigkeit des Volkes vom Römischen Reich. Die Erwartung der politischen und der religiösen Befreiung vom Joch der Heiden griff bei vielen Israeliten ineinander und bedingte sich zum Teil gegenseitig, wobei es für tiefreligiöse Menschen klar war, daß vor Gott natürlich die Befreiung im Sinne einer religiös-geistigen Erlösung den Vorrang hat. Dadurch waren die jüdischen Frauen, besonders die des königlichen davidschen Geschlechtes, von der stillen Sehnsucht erfüllt, die Mutter des künftigen Befreiers des Volkes Israel zu werden. Auch wenn die Wahrscheinlichkeit relativ gering war, daß gerade sie die Erwählte sein wird, verband sich dennoch bei vielen Frauen mit der Heirat insgeheim die Hoffnung, dem künftigen Messias das Leben schenken zu dürfen. 

Maria war eine Tochter ihres Volkes und ist dadurch auch entsprechend geprägt worden. Dennoch hat sie ein Verhalten an den Tag gelegt, das von dem der anderen israelitischen Frauen abweicht. Aus ihrer Antwort auf das ihr vom Erzengel Gabriel überbrachte Angebot, sie solle die Mutter des Sohnes Gottes werden, können wir erkennen, daß sie das Gelübde der Keuschheit abgelegt hatte: “Wie wird das geschehen, da ich keinen Mann erkenne?” (Lk 1,34) Wie sollte das geschehen, da sie sich grundsätzlich mit keinem Mann ehelich verbinden wollte, da sie doch ihre Jungfräulichkeit Gott gelobt hatte? Das ist der erste uns aus der Geschichte bekannte Fall, daß eine Frau nicht nur für eine begrenzte Zeit, sondern für immer auf eine Heirat und Mutterschaft freiwillig verzichtet, und zwar aus religiösen Motiven! Als einem jungen israelitischen Mädchen im geburtsfähigen Alter war es Maria voll bewußt (dies wird nicht von uns in frommer Weise in sie “hineininterpretiert”!), was dieses Keuschheitsgelübde für sie bedeutete. Dadurch schloß sie sich selbst von der Möglichkeit aus - und zwar grundsätzlich -, jemals die Mutter des verheißenen Messias zu werden. Aus vollkommener Liebe zu Gott, die sich in Demut übt und eigene private Interessen um Seiner willen verleugnet, fand sie sich u. a. auch zum Verzicht auf die eventuelle Mutterschaft dem Messias gegenüber bereit, von vorne herein schloß sie sich selbst von der geheimen Sehnsucht jüdischer Frauen aus! 

Natürlich wußte es Maria, daß eine Frau dem künftigen Messias das Leben wird schenken müssen, sich selbst hat sie dafür allerdings nicht für würdig gehalten. Durch ihr Keuschheitsgelübde hat sie diese eventuelle Mutterschaft - menschlich gesprochen - auch völlig unmöglich gemacht! Aber hier offenbart sich die Unerforschlichkeit der Ratschlüsse und die Unergründlichkeit der Wege Gottes, bei dem “kein Ding unmöglich ist” (Lk 1,37). Er hat das scheinbar völlig Unmögliche doch noch möglich gemacht und gerade Maria zur Mutter Gottes erwählt, die doch dafür nach menschlichem Ermessen überhaupt nicht in Frage kommen konnte! 

Gott erwählt für Seinen Heilsplan eine demütige Seele, die nicht einmal durch den geringsten eigennützigen oder -süchtigen Gedanken das Heilswirken Gottes behindere, und Er stattet sie mit höchsten Gnaden aus, derer eine Frau als Mutter überhaupt teilhaftig werden kann. An ihr wirkt Er das buchstäblich einmalige Wunder: Mutterschaft ohne die Mitwirkung eines Mannes! Somit ist neben der Jungfräulichkeit Mariens der “Gottesgebärerin”-Titel einer der schönsten und kostbarsten Edelsteine, der den Glorienkranz der allerseligsten Jungfrau Maria schmückt! Im Jahre 431 ist er auf dem Allgemeinen Konzil zu Ephesus von der Kirche feierlich bestätigt worden. 

Die Reaktion Mariens auf die Erklärung des Erzengels Gabriel darüber, wie sich Gott die Anfänge ihrer Mutterschaft zum Sohne Gottes vorgestellt hat, offenbart ihre wahre Größe. Nachdem sie von Seinem “Ratschluß” und von Seinem “Weg” vernommen hatte, fügte sie sich widerspruchslos dem hl. Willen Gottes: “Siehe, ich bin die Magd des Herrn; mir geschehe nach deinem Wort” (Lk 1,38). Obwohl ihr eigener Lebensplan ursprünglich anders aussah, entschied sie sich innerhalb kürzester Zeit zu einem bejahenden “es geschehe”, das doch ihr Leben grundlegend und folgenschwer veränderte. Man darf nicht meinen, Maria hätte die Bedeutung ihrer Entscheidung nicht überschaut. Sagt sie doch selbst, daß sie “von nun an selig preisen werden alle Geschlechter” (Lk 1,48). Aber obwohl sie um ihre einzigartige Stellung in der Heilsgeschichte wußte, hat sie ihre Erwählung zur Mutter Gottes nicht ihrem eigenen Verdienst zugeschrieben. Als ihre Base Elisabeth ihre Vorzugsstellung vor allen übrigen Frauen und ihren großen Glauben pries (vgl. Lk 1,42-45), wies sie in ihrer Demut und Bescheidenheit auf den Urheber aller Gnaden hin: “Hoch preist meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heiland. Denn herabgesehen hat Er in Gnaden auf Seine niedrige Magd” (Lk 1,46-48)! 

Gott ist es, dem in ihren Augen die ganze Ehre gebührt: “Denn Großes hat an mir getan der Allmächtige, und Sein Name ist heilig” (Lk 1,49). Aber sie gibt auch zu erkennen, daß der Mensch die Gnade Gottes empfangen und mit ihr durch konkrete Entscheidungen mitwirken wollen muß: “Sein Erbarmen währt von Geschlecht zu Geschlecht für die, die Ihn fürchten” (Lk 1,46-50)! Diese Überlegungen lassen erkennen, daß die Jungfrau Maria aus Nazareth schon in ihren jungen Jahren den unbedingten Willen hatte, Gott über alles dienen zu wollen. Sowohl ihre Demut und Opferbereitschaft als auch ihr Gehorsam lassen eine tiefe Liebe zu Gott zum Vorschein kommen, die sich gerade dann bewährt hat, als der Herrgott in Seinem “unerforschlichen Ratschluß” Maria scheinbar einen Strich durch ihre eigene Rechnung machen wollte. Weil sie aber “dem Lamme folgte, wohin es geht” (Offb 14,4), hat Gott an ihr das einmalige Wunder gewirkt, daß sie zugleich Jungfrau blieb und dennoch Mutter wurde! 

So hat Maria durch ihr Leben ein Loblied auf den barmherzigen Gott gesungen und Ihn verherrlicht. Wir aber, die wir ihr in der Liebe zu Gott und in der Ergebenheit in Seinen hl. Willen folgen wollen, stimmen mit ihr in den Lobgesang des dreieinigen Erlösergottes ein: “Machtvoll waltet Sein Arm. Er verwirft die Herzen voll Hochmut, Gewalthaber stürzt Er vom Thron, Niedrige hebt Er empor, Hungrige erfüllt Er mit Gütern, Reiche läßt Er leer ausgehen. Angenommen hat Er sich Israels, Seines Knechtes, eingedenk Seines Erbarmens mit Abraham und seinen Nachkommen auf ewig, wie Er unseren Vätern verheißen” (Lk 1,51-55)! 

 

P. Eugen Rissling



Zurück Hoch Startseite