Kurze Messbetrachtung 


16. Teil


Kanon 

Die drei Synoptiker beschreiben in ihren Evangelien, wie Jesus zum ersten Mal die Heilige Messe im sogenannten Abendmahlssaal gefeiert hat. Er nahm nämlich (im Anschluss an das jüdische Ostermahl) "Brot, segnete es, brach es und gab es den Jüngern mit den Worten: 'Nehmt hin und esset, das ist Mein Leib.' Dann nahm Er einen Kelche, dankte und reichte ihn ihnen mit den Worten: 'Trinket alle daraus; denn dies ist Mein Blut des Neuen Bundes, das für viele vergossen wird zur Vergebung der Sünden'“ (Mt 26,26-28; vgl. Mk 14,22-24; Lk 22,19f.). 

Auch der hl. Apostel Paulus gibt an, "vom Herrn empfangen“ zu haben, was er auch - in diesem Fall den Korinthern - "überliefert habe“, wie nämlich Jesus das Messopfer eingesetzt und den Aposteln deren Zelebration eingeschärft habe (vgl. 1 Kor 11,23-26). Und nach der kurzen Beschreibung dessen, was "der Herr Jesus ... in der Nacht, da Er verraten wurde“ getan hat, folgt noch ein Zusatz, der uns klaren Aufschluss darüber gibt, als was die junge Kirche die eigene eucharistische Handlung verstanden hat: "Denn sooft ihr dieses Brot esst und diesen Kelch trinkt, feiert ihr den Tod des Herrn, bis Er wiederkommt“ (1 Kor 11,26)! Nun hat sich aber die junge Kirche, die katholische Kirche (!), von Anfang an nicht darauf beschränkt, es bei der Messfeier lediglich bei dieser in den Evangelien beschriebenen kurzen Handlung zu belassen. Selbstverständlich bildete diese liturgische Zeremonie der Konsekration den Mittel- und den Höhepunkt der Heiligen Messe - anders kann es gar nicht sein! Dennoch ist festzustellen, dass diese genannten Wandlungszeremonien bald mit anderen Handlungen umgeben wurden, die auf ihre jeweils spezifische Weise den unermesslichen Reichtum des für uns, Menschen, trotz allem unbegreiflichen Handelns Gottes in der Liturgie der Kirche zum Ausdruck bringen sollten. Zunächst wurde dieses Kernstück der Heiligen Messe, die Konsekration, bei Judenchristen noch in Verbindung mit einigen herkömmlichen mosaischen Riten gefeiert. Das geschah unter anderem wahrscheinlich auch in Anlehnung an den Umstand, dass auch Jesus die erste Messe im Anschluss an jüdische Paschariten feierte, obwohl sich Seine Stiftung deutlich von diesen Riten abgrenzt und als etwas Selbstständiges in Erscheinung tritt! 

Mit der Zeit aber, als die Christenheit aus grundsätzlichen Überlegungen heraus die Notwendigkeit der weitestgehenden Trennung von der Synagoge erkannte und diese auch vollzog, und als sich auch die Zahl der von der damaligen Heidenwelt abstammenden Gläubigen zusehends vergrößerte, wurden zwar auf der einen Seite noch einige bereits im Alten Bund vorhandenen Riten in die christliche Liturgie aufgenommen (z.B. Schriftlesungen, Sanctus), auf der anderen Seite aber kam es zunehmend auch zur Einführung gewisser neuer gottesdienstlicher Zeremonien, die rein christlichen Ursprungs waren. Zwar kennt somit die Kirchengeschichte eine Phase der Entwicklung und des inneren Wachstums der verschiedenen apostolischen Messriten. Aber dieser Prozess vollzog sich keinesfalls willkürlich! Sämtliche Liturgien apostolischen Ursprungs weisen nämlich, liturgiegeschichtlich gesehen, - obwohl in weit voneinander liegenden Gegenden der damaligen Christenheit gefeiert - sowohl ähnliche Grundstrukturen als auch übereinstimmendes theologisches Denken auf! 

Dieser wichtige Umstand lässt nicht nur auf einen allen Riten zugrunde liegenden übereinstimmenden Glauben und somit auf gemeinsame Wurzeln schließen, sondern auch - wegen eben ihrer geistigen Verwandtschaft untereinander - auf äußerst behutsamen und verantwortungsvollen Umgang der Kirche mit der ihr anvertrauten Liturgie. Der Messritus wurde also nicht etwa willkürlich oder nach eigenem Gutdünken ergänzt oder sogar neu erfunden bzw. definiert (siehe die sogenannte "neue Messe“). Nein, er ist auf eine gesunde Weise gewachsen, d.h. unter Berücksichtigung der und in Anlehnung an die gesamte bisherige theologische und liturgische Tradition der Kirche! Dazu zählt auch die gelegentlich zu vermutende gegenseitige Einflussnahme der einzelnen Messriten aufeinander. Außerdem haben die dogmatischen Feststellungen der großen Ökumenischen Konzilien des christlichen Altertums, die sich ja vor allem mit zentralen christologischen Fragen beschäftigten, verständlicherweise ebenfalls einen bestimmten Einfluss auf diesen Prozess ausgeübt. Ist eine Glaubenswahrheit theologisch ausgearbeitet und feierlich proklamiert worden, war man wegen ihrer Wichtigkeit für den Glauben und das Glaubensleben berechtigterweise daran interessiert, ihr auch in der Liturgie gebührend Raum zu gewähren. 

Und was vom Messritus insgesamt gilt, das trifft auch für den Kanon im Besonderen zu. "Kanon“ ist eine der römischen und ambrosianischen Liturgie eigene Bezeichnung für jenen wesentlichen und unveränderlichen Teil der Messe, zu dem neben der hl. Wandlung auch Gebete und Zeremonien gehören, die sich um eben diese Wandlung gruppiert. Zuletzt verstand man es so, dass der Kanon mit dem Gebet Te igitur beginnt und vor dem Pater noster endet. "Die ältesten vollständig überlieferten Texte des römischen Messkanons stammen aus dem 7. Jahrhundert und sind im Missale von Bobbio, im Missale Francorum und im Sacramentarium Gelasianum enthalten. ... Umfangreiche Bruchstücke des Kanontextes sind für das Ende des 1. Jahrhunderts bezeugt in der pseudo-ambrosianischen Schrift De Sacramentis. Sie gehören den Gebeten 'Quam oblationem', 'Qui pridie' mit dem Einsetzungsbericht, 'Unde et memores', 'Supra quae‘ und ‘Supplices' an.“4 Auf kleinere Textverschiedenheiten darf kein großes Gewicht gelegt werden. Und wenn diese Gebete für diese Zeit bezeugt werden können, dann bedeutet das nicht, dass sie erst zu diesem Zeitpunkt entstanden sind. Wenn bereits damals der Kanon gelegentlich als eine "canonica prex“, als ein "kanonisches Gebet“ bezeichnet wurde, das man "ex apostolica traditione“, "aus apostolischer Überlieferung“ erhalten habe, dann folgt daraus, dass die betreffenden Kanongebete bereits ein fester Bestandteil der damaligen Messfeier und somit auch noch älteren Datums waren als (bisher) handschriftlich bezeugt! 

Mit der Herauskristallisierung des Kanons im christlichen Altertum wurde folglich auch sein Wachstums- und Entwicklungsprozess abgeschlossen. Wie es der Begriff "Kanon“ selbst sagt, ist er etwas Festes und Endgültiges geworden, was vom betreffenden Messritus nicht mehr wegzudenken ist und woran nicht gerüttelt werden darf! Diese Erkenntnis gehörte zum Selbstverständnis der alten Christenheit. Das griechische Wort "Kanon“, kanwn, stammt aus dem Semitischen und steht dort für ein Rohr, das etwa zur Herstellung von Körben oder Messruten verwendet wurde. Im Griechischen wird es zum Ausdruck der Geradheit und Exaktheit, es bedeutet Richtschnur, Grenzlinie, Regel, Norm, Tabelle. Damit ist auch die weitere theologische Bedeutung umschrieben, die man dem Kanon der Heiligen Messe zumisst. Er ist unveränderlich und bindend, und somit Regel, Norm und Richtschnur des katholischen Glaubens und des eucharistischen Gottesdienstes! Er dient zum Vollzug des unbefleckten Opfers des Neuen und Ewigen Bundes und erlaubt uns, unsere Hingabe mit der stellvertretenden Hingabe des Gotteslammes liturgisch zu verbinden. Deshalb muss er von uns als etwas Heiliges geehrt und wie ein Augapfel vor Geringschätzung, Verspottung und Entheiligung jeglicher Art geschützt werden! Er enthält alle wichtigen Heilsgeheimnisse und scheidet jeglichen Irrtum aus - er ist Ausdruck und Garantie der Rechtgläubigkeit! Die neuzeitigen "Reformer“ sollten dies mal beherzigen! 

Das Konzil von Trient führt unter der Überschrift "Vom Kanon der Messe“ äußerst zutreffend aus: "Und weil es sich ziemt, dass das Heilige heilig verwaltet werde, und dieses das heiligste aller Opfer ist, so hat die katholische Kirche, damit dasselbe mit Würde und Ehrfurcht dargebracht und aufgenommen werde, vor vielen Jahrhunderten den heiligen Kanon festgesetzt, welcher so von allem Irrtum rein ist, dass nichts in demselben sich befindet, was nicht ganz deutlich eine bestimmte Heiligkeit und Frömmigkeit erkennen lässt, und die Gemüter der Darbringenden zu Gott emporrichtet. Derselbe besteht nämlich teils aus den eigenen Worten des Herrn, teils aus Überlieferungen der Apostel und auch aus frommen Anordnungen heiliger Päpste“ (Sess. 22, de sacrif. Missae c.4). 



1 Eisenhofer, L., Handbuch der katholischen Liturgik. Band II, Freiburg 1933, S. 164f

 

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